Anleitung zum Streiten

Essay

Schulinterner Streitschlichter zu werden, war Ende der neunziger Jahre eine beliebte Nebentätigkeit für ambitionierte Gymnasiasten. Man versprach sich eine verantwortungsvolle Leader-Rolle und spannende Cases aus der Unterstufe („Nina hat Johanna in der kleinen Pause mit Mandarinenschalen beworfen.“). Es galt, zunächst Ursachen zu klären (welche Beleidigung ging möglicherweise dem Fruchtgeschoss voraus?), dann die verhärteten Fronten aufzuweichen (wechselseitiges In-die-Augen-Schauen, körperliches Hinwenden) und schließlich eine Versöhnung zu bewirken. Oberstes Gebot war, möglichst besonnen miteinander zu kommunizieren und die inneren Löwen in einen Käfig zu sperren.

Streiten für Impulsive: Der Paar-Konflikt

Doch spätestens beim ersten Beziehungsstreit wurde es selbst für zertifizierte Schlichter komplizierter. Der Löwe tobte. Sachlich bleiben? In „Ich-Botschaften“ kommunizieren, statt dem anderen bittere ­Vorwürfe entgegenzuschmettern? Wenn es emotional wird, fällt das schwer. „Liebling, ich finde es schade, dass ich im Haushalt vieles alleine mache und somit wenig Zeit für mich selbst habe“, statt „Wenn du nicht immer rund um die Uhr arbeiten würdest, könntest du auch mal die verdammte Spülmaschine einräumen!“ – seien wir ehrlich, authentischer klingt Satz Nummer zwei.

Und jetzt kommt die gute Nachricht: Zaghaft war gestern. Heute darf man – das bestätigt die psychologische Forschung – das Raubtier im Konfliktfall endlich befreien. „In Augenblicken des Aneinandergeratens kann es durchaus heilsam sein, gegen alle Regeln der Gesprächsführung zu verstoßen und spontan die Luft herauszulassen. Vorausgesetzt, dass die Beteiligten so zueinander stehen, dass eine klärende Nachbesprechung selbstverständlich ist und beide an einem förderlichen und res­pektvollen Miteinander interessiert sind“, schreibt die Mediatorin und psychologische Beraterin Marion Selzer. Auch laut zu werden, ist nicht mehr so verpönt wie es einmal war. Natürlich ist es in erster Linie Typsache, ob man im Streit brüllt, heult oder zu Eis erstarrt. Grundsätzlich verboten sind ehrliche Emotionen aber nicht; Hauptsache, nach der impulsiven Entladung gelingt es, die Situation zu analysieren und Kompromisse zu schaffen.

Streiten für Fortgeschrittene: Bürogefechte

Ist nun auch im beruflichen Kontext ­kräftiges Austeilen en vogue? Tanja ­Pöthmann ist Wirtschaftsmediatorin und kennt sich bes­tens aus mit Zank am Arbeitsplatz. Vom Übergang zum Du-Angriff und fliegenden Kaffeetassen im Büro rät sie entschieden ab. Aber ein bisschen klarer dürfe der Tonfall auch hier werden: „Wir gehen alle zu smooth miteinander um. Gleichzeitig behandeln wir uns nicht mehr aufmerksam genug und sind egozentrisch geworden“, so Pöthmanns Beobachtung der vergangenen Jahre. Anstatt den anderen und seine Bedürfnisse wirklich wahrzunehmen, behandelten wir uns mit beliebiger Höflichkeit. Hinzu komme eine ­Kultur der Konfliktvermeidung, des „Wir-haben-uns-­alle-lieb“ in vielen Unternehmen: „Offiziell wird ja kaum gestritten“, sagt sie. „Doch in vielen dieser ‚tollen Teams‘ steckt fast jedem ein Messer im Rücken. Dabei übersehen die meisten Menschen, dass bearbeitete Konflikte eine starke Quelle für Wachstum sind.“

Wie unter anderem der Psychologe ­Christian Dormann in einer Studie belegte, kann es jedoch die Gesundheit gefährden, sich einer „emotionalen Dissonanz“ auszusetzen, also den Ärger herunterzuschlucken und gute Miene zu machen, obwohl einem nicht danach zumute ist. Ein solches Verhalten erhöht die Konzentration des Stresshormons Cortisol und kann auf Dauer zu Burnout-­Erscheinungen führen. Statt Probleme wegzulächeln, weil Streit nun mal so gar nicht zur Unternehmenskultur passt, sollte man sie rechtzeitig klar aussprechen.

Aber wie? Wird Schlichterin Pöth­mann zu einem Streit im Unternehmen gerufen, empfiehlt sie den konstruktiven Dialog, der sich aus vier Schritten zusammensetzt: Zuerst beschreibt jeder der Konfliktpartner subjektiv die Situation – in Ich-Botschaften. Wenn sich ein Mitarbeiter vom Vorgesetzten beispielsweise nicht gesehen fühlt, könnte er sagen: „Lieber Chef, ich habe das Gefühl, nicht den Stellenwert zu haben wie die anderen Kollegen.“ Im zweiten Schritt sollte er die Auswirkungen dieses Zustands beschreiben: „Ich habe den Eindruck, dass meine Arbeitsleis­tung nicht sehr wertgeschätzt wird, und dadurch fühle ich mich nicht so motiviert, wie ich sein könnte.“ Im dritten Punkt geht es um die eigenen Empfindungen, hier müsse man, so Pöthmann, darauf achten, nicht zu emotional zu werden. „Meine Empfindung ist, dass meine Leistung nicht richtig gewürdigt wird.“  In einem letzten Schritt stellen sich beide Parteien öffnende Fragen und hören der anderen aktiv zu. Auch Ärger solle man ruhig artikulieren, sagt die Mediatorin, „aber bitte ohne Vorwürfe und auf keinen Fall mit Wut im Bauch! Lieber eine Nacht darüber schlafen.“ Kommunikativ nützlich kann das Paraphrasieren der Situationsschilderung des Gegenübers sein, also das Wiederholen des Sachverhalts des anderen mit eigenen Worten. Das zeigt Verständnis und deckt Missverständnisse auf.

Zu schreien ist im Büro nach wie vor Tabu. Emotionalität lässt sich aber dennoch über den Tonfall ausdrücken. Ein „Ruhe bitte!“ kann man in unterschiedlichen Schärfegraden transportieren. Auch darüber lässt sich eine Aussage steuern, ohne dass sie ausfallend wird.

Wichtig ist das Timing. Auch wenn es unangenehm ist, sollte man sich nicht zu lange scheuen, Konflikte oder ein schlechtes Gefühl anzusprechen. Lieber nach dem dritten Mal schon sagen: „Ich beobachte, dass Sie alle meine Kollegen jeden Morgen begrüßen, an meinem Schreibtisch gehen Sie aber wortlos vorbei. Hat das einen bestimmten Grund?“, empfiehlt Pöthmann. Wer zu lange wartet, nährt den inneren Löwen und staut Aggressionen an. Im geschilderten Fall womöglich sogar gegenüber den Kollegen, die vom Chef freundlicher behandelt werden.

Bei Konflikten im Team ist in der Regel der Chef in der Schlichter-Pflicht. Ist er damit überfordert, parteiisch oder sind die Fronten verhärtet, sollte er einen Externen zu Rate ziehen. Regelmäßige Kommunikationsworkshops für Teams, in denen alle aktuellen Themen aufs Tableau gehoben werden, sind die beste Streitprophylaxe.

Nicht jeder streitet gleich. Unterschiede beobachtet Tanja Pöthmann auch zwischen den Geschlechtern. Das Klischee stimme: „Männer sind oft weniger nachtragend als Frauen.“ Die Beraterin arbeitete einst in einer eher maskulinen Branche, dem Tief- und Straßenbau, und musste manches Mal schlucken, was sich gegenseitig gegen den Kopf geknallt wurde. „Aber immerhin war diese Kommunikation ehrlich und direkt, es wurde nicht geläs­tert und die Wut staute sich nicht an.“

Besonders schwierig wird es für Schlichter, wenn eine der Parteien kein echtes Interesse an einer Lösung hat, keine Zugeständnisse machen möchte. „Viele tun nur so, als seien sie offen und gesprächsbereit. Auf das Kernthema wollen sie sich dann nicht festlegen oder weichen aus.“ Kann selbst in einem Vier-Augen-Gespräch mit dem Schlichter der Grund für die Verweigerung nicht festgestellt werden, ist die Mediation zwecklos. In Unternehmen kann das zum Exit des Mitarbeiters führen.

Streit für (PR-)Profis: Konzernkämpfe und Firmen-Fights

Auch bei Streits zwischen Unternehmen beobachtet Pöthmann zuweilen diese Scheinbereitschaft zu Gesprächen, die sich als Heuchelei entpuppt. „Aus PR-Gründen sind die Unternehmen gezwungen, sich in der Öffentlichkeit kompromissfähig zu geben.“ Wer von vornherein blockiert, wirkt arrogant und unfähig. Oft bleibt es aber bei Worthülsen.

Pöthmann vermittelt auch zwischen ko­operierenden Unternehmen oder wenn mit Zulieferern Probleme auftreten. Bevor viel Porzellan zerschlagen wird, kann es günstiger sein, einen Mediator einzuschalten. In rund 90 Prozent der Fälle kann laut der Schlichterin auf diese Weise ein Gerichtsstreit vermieden werden. Der Unterschied zur Team-Mediation: In solchen Fällen hat sie es mit Geschäftsführern oder CEOs zu tun und es geht oft um Machtgefälle. „Jeder möchte zu 100 Prozent durchdrücken, was er sich vorgestellt hat.“ Und dann? „Die Kunst liegt darin, den ‚Painpoint‘ zu erwischen“, erklärt sie. Das bedeutet: den Kontrahenten das schmerzhafte Szenario zu entlocken, das eintritt, wenn sie keinen gemeinsamen Nenner finden.

Hilfreich ist die Anwendung des ­Harvard-Konzepts, das Anfang der achtziger Jahre an der Elite-Universität entwickelt wurde. Die Verhandlungsmethode besteht aus fünf Prinzipien. Der Schlüssel zur Konfliktbewältigung liegt darin, erstens die Sachebene von der Beziehungsebene klar zu trennen. Zweitens sondiert man die Themenbereiche, jede Streitpartei benennt ihre Interessen, anstatt unflexible Positionen zu beziehen. Im dritten Schritt sollen beide Parteien zusammen verschiedene vorstellbare Lösungen erarbeiten. Der Mediator sammelt diese Ideen und arbeitet mit den Parteien die Lösung heraus, die für alle am besten ist. Dabei werden auch objektive Beurteilungskriterien (beispielsweise ethische Normen) einbezogen. Schließlich wird daraus eine grundsätzliche Verhaltensregel festgelegt.

Auch in diesem Jahr wurde auf medialer Bühne ausgiebig gestritten. VW gegen seinen Zulieferer Prevent, Google gegen Uber oder – besonders verzwickt, weil familienintern – der Streit der Naturkostkette Alnatura versus den Drogeriemarkt dm, in dem die beiden verschwägerten Chefs sich überwarfen.

Damit das Kommunikationsdesaster gebremst und die öffentliche Bloßstellung nicht größer wird als nötig, sollte man eben nicht lange taktieren oder gar versuchen, den anderen aushungern zu lassen, rät Konfliktexpertin Pöthmann. „Wenn es nicht unbedingt sein muss, würde ich Unternehmen raten, mit der Positionierung in einem Streit nicht in die Öffentlichkeit zu gehen.“ Wenn sich ein mediales Interesse aber nicht vermeiden lässt, wie im Zuliefererstreit von VW, bleibe nur das Eingeständnis: „Ja, wir haben Streit und sind dabei, eine gemeinsame Lösung zu finden.“ Im Auge behalten sollten Kommunikatoren dabei die Reaktionen der Konsumenten, beispielsweise im Social Web, um im Falle von Anfeindungen mit einer sachlichen Darstellung der eigenen Position reagieren zu können.

Denn auch wenn ein Konzern wie VW objektiv gesehen über größere Macht verfügt, kann es sich rächen, den Konflikt nicht ernst genug zu nehmen. In dem Moment, in dem, wie in diesem Fall, Kurzarbeit ins Spiel kommt, wird die Debatte zu einer gesellschaftlichen, die dem Unternehmens-Image nachhaltig schaden kann.

Oberstes Gebot ist also: Ruhig bleiben und die Konsequenzen des Konflikts in bestmöglichem Krisenmodus organisieren. „Unsere Türen sind offen. Wir würden gerne verhandeln“, sagte Lufthansa-Sprecher Martin Leutke Ende November im ZDF inmitten des Piloten-Streiks. „Wir sagen: Wir müssen die Schlichtung haben.“ Die Vereinigung Cockpit sei aber „offenbar mehr an einer Eskalation interessiert als an einer zielorientierten Lösung des Konflikts.“ So gut die Airline ihre Krisenbewältigung diesmal an Flughäfen und in Service-Centern im Griff hatte – den letzten Satz hätte Leutke besser herunterschlucken sollen. Denn auch wenn es für eine Partei zielführend sein mag, die Beobachter nach dem Motto „Wir wollen uns ja vertragen, aber die wollen lediglich (grundlos) stänkern“ auf die eigene Seite zu locken: Solche öffentlichen Äußerungen tragen gleichzeitig dazu bei, für die Verhandlung selbst die Fronten weiter zu verhärten. Das Unternehmen wirkt in solchen Aussagen hilflos und seltsam unbeteiligt.

Das Verständnis der Konsumenten und Stakeholder ist immer dann am Ende, wenn sie sich nicht mehr sicher sind, ob es noch um konkrete Inhalte geht oder nur noch um Machtkampf. Über die Harvard-Methode, die sich der reinen Sachebene widmet, lässt sich das schnell herausfinden.

Streiten Sie kreativ!

Hält man die Grundregeln ein, lässt sich bei allen kommunikativen Fallstricken und emotionalen Befindlichkeiten dem Kämpfen und Zanken etwas Positives abringen: Streit fördert Entwicklung. Und zwar dann, wenn die unterschiedlichen Positionen auf eine konstruktive Weise beleuchtet werden. Auch das ist der Grund, warum viele Psychologen heute dazu aufrufen, die Fetzen fliegen zu lassen, statt in trügerisch-harmonischer ­Langeweile zu versinken.

Das Wort Kompromiss bedeutet ursprünglich, gemeinsam etwas zu versprechen. Eine solche Übereinkunft muss nicht zwangsläufig faul oder halbgar sein, sie kann sogar als kreativer Ausgangspunkt verstanden werden. Wenn in einem Paar-Konflikt der eine ans Meer will und der andere in die Berge, können sich beide stattdessen auf etwas völlig Neues einigen und damit ihren Horizont erweitern. Vielleicht planen sie eine Safari und finden heraus, dass sie insgeheim schon immer mal aus sicherer Entfernung Löwen beobachten wollten. Das soll ja schließlich sehr heilsam sein.

Drei schwierige Streittypen

1. Der Hitzkopf
Dieser Zeitgenosse ist hoch­explosiv. Die Grundregel lautet: Nicht auf die Emotion des Hitzkopfs eingehen! Es ist nicht einfach auszuhalten, wenn man von ihm etwas an den Kopf geworfen bekommt. Die wirksamste Waffe besteht aber darin, tief durchzuatmen und zunächst zu schweigen. Über den konstruktiven ­Dialog lässt sich heraus­finden, was sich hinter den Emotionen verbirgt.

2. Der Zurückhaltende
Beim zurückhaltenden Streiter besteht die Kunst darin, ihn zu aktivieren. Dazu muss erst einmal Vertrauen aufgebaut und ein sicherer Rahmen geschaffen werden, in dem er sich äußern kann. Der direkte Vorgesetzte ist als Moderator oft nicht so neutral wie ein Externer, eine neutrale dritte Partei kann dazu beitragen, ihn zum Sprechen zu bewegen.

3. Der Nachgiebige
Wenn jemand im Konflikt sehr nachgiebig ist und schnell in die Anpassung geht, sich dabei aber ­dissonant verhält, kann ein ­Coaching zum Thema Abgrenzung sinnvoll sein. Dieser Typus muss lernen, auch mal Widerspruch zu leisten.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Streit. Das Heft können Sie hier bestellen.

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