Es gibt Natur- und Umweltschutzthemen, die erregen die Gemüter und laufen praktisch von selbst: Dazu gehören Plastikmüll in aufgequollenen Vogelmägen, Massentierhaltung, flächendeckender Pestizideinsatz in der Landwirtschaft oder Waldkahlschläge für die weltweite Palmölproduktion.
Wie schafft man es jedoch, bundesweite Aufmerksamkeit für ein träge fließendes Gewässer zwischen Brandenburg und Sachsen-Anhalt zu gewinnen? Wie wird das Thema Flussrenaturierung sexy? Mit diesen Fragen beschäftigten wir uns im Sommer 2013, als klar war, dass zwei Jahre später die Bundesgartenschau (Buga) in die Havelregion kommen würde.
Ein Experiment in vielerlei Hinsicht: Erstmalig würde ein Fluss – das blaue Band der Havel – im Mittelpunkt einer solchen Schau stehen, erstmalig würde die Buga in fünf ländlichen Kommunen stattfinden und erstmalig würde der Nabu (Naturschutzbund Deutschland), der gerade an der Unteren Havel die größte Flussrenaturierung in Europa vorantreibt, mit einer solchen Institution kooperieren.
Einstiges Havel-Idyll war nur noch grüne Suppe
Den Grund dafür lieferte das Gebiet selbst: Die Untere Havelniederung ist das ökologisch größte und bedeutsamste zusammenhängende Feuchtgebiet im Binnenland des westlichen Mitteleuropa. Vor vielen Jahren war die Havel hier noch ein natürlicher Fluss mit einem großen Binnendelta, artenreichen Uferwäldern, Mooren und weitläufigen Wiesen. Doch Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie zur Wasserstraße ausgebaut, Deiche und Staustufen wurden errichtet, Kanäle und Entwässerungsgräben angelegt. Die intensive Nutzung hinterließ ihre Spuren, die Havel erlitt erhebliche ökologische Schäden. In den 1980er- und 90er-Jahren war von dem einstigen Idyll nur noch eine grünliche Suppe übrig, das Schilf und seine tierischen Bewohner verschwanden und das Baden im Fluss hinterließ Hautausschläge.
Im Jahr 2005 hat der Nabu eine Rettungsaktion der Havel gestartet. Heißt: Auf rund 90 Flusskilometern sollen in den kommenden Jahren die Lebensbedingungen von mehr als 1.100 geschützten und bedrohten Tier- und Pflanzenarten verbessert werden. Dazu wird der Auenwald begründet, die grauen Ufer- und Deckwerksteine werden entfernt, Altarme und Flutrinnen wieder mit dem Fluss verbunden und Deiche zurückgebaut, um Überflutungsflächen für den natürlichen Hochwasserschutz zu gewinnen. Ein ehrgeiziges Vorhaben mit internationaler Strahlkraft und Vorbild für weitere Flüsse, die aus der wirtschaftlichen Nutzung genommen wurden – und der Grund dafür, weshalb die Havelregion den Zuschlag für 2015 bekam, die Buga auszurichten.
Gebloggt: Die Floß-Tour auf der Havel
Eins stand fest: Die Havel und ihre Schönheit muss man erleben, um für dieses Naturparadies sensibilisiert zu werden. Wir wollten außerdem ein hochwertiges Produkt für den Vertrieb auf der Buga kreieren, das nachhaltig wirkt. Das Porträt einer Region – damit war die Idee eines Kochbuches geboren. Um die Geschichten entlang des Flusses erzählen und die regionalen Rezepte sammeln zu können, war es wichtig, dass wir uns selbst aufs Wasser egaben. Für unsere Recherchereise von der Quelle bis zur Mündung wählten wir ein langsames Fortbewegungsmittel – ein Floß – und tauften die Expedition auf den Namen „Havelberry-Finn-Tour“. Es sollte die längste und intensivste Floßtour werden, die Deutschland je erlebt hat. Mit ihrem Start im Frühjahr 2014 (etwa ein Jahr vor der Buga-Eröffnung) wollten wir die Aufmerksamkeit auf die Region und den Nabu lenken, den Zustand des Flusses dokumentieren und gleichzeitig den Nabu-Mitgliedern die Möglichkeit bieten, dieses Projekt mit eigenen Augen zu sehen.
Aber auch der Rest der Republik sollte an diesem Abenteuer teilhaben – dafür richteten wir einen Blog ein und statteten die Floßfahrer mit Laptop und Kamera aus. Als Budget standen uns rund 40.000 Euro zur Verfügung. Davon konnten die Floßmiete, das technische Equipment, die Veranstaltungen entlang der Tour und der Fotograf Parwez Mohabat-Rahim bezahlt werden, der uns und die Menschen am Fluss in Szene setzte. Es folgten ein deutschlandweiter Aufruf an alle 500.000 Mitglieder und eine intensive Bewerbung über das Mitgliedermagazin „Naturschutz heute“, über nabu.de und die Social-Media-Kanäle.
Am 28. April 2014 war es dann so weit. Acht Wochen lang schipperten acht verschiedene Teams, bestehend aus Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, auf der 30 Quadratmeter großen und 15 PS starken „Großen Bärin“ die Havel entlang und durchquerten dabei vier Bundesländer. Die Tour startete in Wesenberg an der Oberen Havel, machte Station in Berlin und endete in Havelberg. Rund 340 Flusskilometer wurden entdeckt, beobachtet und dokumentiert. Die Teilnehmer bloggten täglich auf www.havelberry-finn-tour.de über ihre Erlebnisse. Brisante Einträge wie „Mann über Bord“ und Berichte über Sommergewitter, windstarke Manöver oder Ankerverluste ließen keine Langeweile aufkommen. Verschiedene Veranstaltungen auf der Strecke wie Clean-Up-Aktionen, vogelkundliche Wanderungen, Amphibienexkursionen oder Wildnis-Paddeltouren luden Interessierte dazu ein, bei der Reise dabei zu sein – virtuell oder persönlich.
Der Blog erwies sich als geeignetes Medium, um für Naturschutz zu begeistern. Insgesamt wurden während der achtwöchigen Floßtour etwa 50.000 Seitenaufrufe gezählt mit Blog-Besuchern aus allen Bundesländern. Aufgrund der kurzen Laufzeit spielten weder Suchmaschinen noch externe Verlinkungen für die Resonanz eine Rolle, sondern vor allem die intensive Bespielung der sozialen Medien.
Für unsere Vision des Kochbuchs konnten wir den Haupt Verlag gewinnen, der das fertige Werk „Die Naturküche der Havel. Eine Flusslandschaft, ihre Menschen und Rezepte“ im März 2015 publizierte. Mittlerweile ist es in vielen Medien präsent – Magazine wie „Zitty Brandenburg“, „LandLeben“, „Wohnen & Garten“, „Tagesspiegel Havelland“ oder „Stern“ berichteten über das Buch, ebenso Sender wie „RBB“ und „MDR“ und Tageszeitungen wie „Märkische Allgemeine Zeitung“, „B.Z.“ und „Bild“. Bislang wurden bereits 800 Exemplare verkauft, trotz des regionalen Themas. Die Buga beweist zur Halbzeit mit einer halben Million Besucher, dass das Konzept in einer ländlichen Region aufgeht. Und auch das Renaturierungsprojekt des Nabu ist nun durch Berichte in „ZDF heute“, „FAZ“ oder „Deutschlandradio“ überregional bekannt.
Fazit: Manchmal lohnen sich außergewöhnliche Aktionen für Projekte, die auf den ersten Blick nicht die Gemüter erhitzen.