Rede nach Reifegrad

Reden schreiben, Reden halten

Jede Führungskraft ist anders. Gute Pressesprecher stellen sich auf ihren Chef ein. Ich habe schon ganze Redenschreiberabteilungen in großen Unternehmen verzweifeln sehen, wenn der neue Chef besser oder deutlich schlechter war als der alte. Auf einmal gelten ganz neue Regeln und was Jahre funktioniert hat, funktioniert nun nicht mehr.

Auch wenn Führungskräfte oder Politikerinnen mit ihrer Aufgabe wachsen und das Reden mit der Übung besser wird, so muss das doch schrittweise geschehen. Es ist nicht schlechter, vom Manuskript abzulesen oder mit Rednerpult zu arbeiten, wenn der oder die Vortragende sich dann sicher fühlt. Menschen gehen nur weiter auf die nächste Stufe, wenn sie sicher stehen. Es gibt eine Reihe berühmter Menschen, die nicht ohne Rednerpult sprechen, ausformulierte Reden vorlesen und trotzdem großartig sind.

1. Die Unsichere

Unerfahrene Redende stellen sich hinter ein Pult und lesen ihre Rede ab. Sie gucken wenig auf und halten sich an ihrem Manuskript (und am Rednerpult) fest. Wenn Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann das tut, warum nicht der Chef eines mittelständischen Technikunternehmens, wenn er sich so am wohlsten fühlt? Selbstverständlich darf er die Hände in die Hosentaschen stecken (möglicherweise nicht dauernd) und die Pressesprecherin korrigiert ihn da auch nicht. Sobald er merkt, dass er die Situation überlebt, kann man behutsam mit dem Coaching anfangen.

Zur Körpersprache sagt man anfangs am besten überhaupt nichts. Davon abgesehen, dass ich es für unangemessen halte, an der Körpersprache eines anderen Menschen herumzunörgeln, hilft es auch nicht. Wenn die Chefin dauernd an ihre Hände denkt, macht sie sich lächerlich. Wenn der neue Chef sich mit Standbein/Spielbein aufbaut wie ein Model bei der Siegerehrung der Tour de France, lachen selbst die Lehrlinge.

2. Der Mutige

Im zweiten Schritt könnte man das Manuskript für die Rede durch einen senkrechten Strich teilen. Bei deutlich erhöhtem Puls wird die linke Seite einfach vorgelesen. Wenn die Sicherheit zurück ist und das Herz normaler schlägt (das kann auch von Anfang an so sein), schaut der Redende auf die rechte Seite und redet nach den Stichworten, die dort in großem Abstand, analog zum Text, aufgeschrieben sind.

3. Die Versierte

Im nächsten Schritt steht der Vortragende neben oder vor dem Rednerpult und hat Moderationskarten in der Hand, auf denen nur die Stichworte stehen. Dazu kommen (grafisch gut hervorgehoben) wichtige Zahlen, Daten und Fakten. Auch wenn jemand frei redet, braucht die Person die Titel des eingeladenen Hochschulprofessors genauso wenig auswendig zu wissen wie die Typenbezeichnung des neuen Vergasers oder die Namen der Teammitglieder in der Arbeitsgruppe zum Gendern der Bedienungsanleitungen.

4. Der Profi

Wenn der Redner noch weiter gehen will, stehen die Stichworte nicht in einer Reihenfolge, sondern sind zu Sternen oder Themen zusammengefasst. Eine Rede besteht also nicht aus Sätzen, sondern aus Themen, aus Clustern, aus Mindmap-Knoten, die den Vortragenden immer wieder dazu anregen, denselben Sachverhalt ein bisschen anders zu erzählen und damit lebendiger zu gestalten. Er liest ein oder zwei Stichworte, weiß, worum es geht, und kann jetzt frei sprechen. Wenn er mit dem Stern fertig ist, guckt er, was er vergessen hat und ergänzt das dann. Jetzt werden die Sätze „tanzen“ und nicht marschieren, und es wird deutlich leichter, Menschen nicht nur zu informieren, sondern sie zu begeistern und für eine Sache zu gewinnen.

Hier bietet es sich auch an, persönliche Geschichten vorzuschlagen. Im Redemanuskript steht dann entweder eine Geschichte, die der Unternehmenssprecher kennt oder vorschlägt, weil er weiß, dass genau das passiert ist. (Immer mit der Option, dass die Rednerin sie noch austauschen kann, wenn sie eine bessere Geschichte hat.) Oder man verzichtet gleich auf die Vorgabe, sondern schreibt ins Manuskript: (private Geschichte?) und gibt dem Redner so die Möglichkeit, das eben einzubauen oder auch nicht.

Diese Geschichten bieten sich vor allem an, wenn wenig Zeit ist und der motivierende Faktor der Rede überwiegt. Ich bin schon einer Führungskraft begegnet, die sich fürs Führungskräfte-Meeting die Zielvorgabe „Verdopplung der Kundenzahl“ vorgenommen hatte. Wenn er das einfach so gefordert hätte, hätte es viel Widerstand gegeben. Stattdessen hat er die Geschichte erzählt, wie er auf diese Idee kam. Die Führungskräfte konnten seine Idee nachvollziehen, und der Widerstand war zum großen Teil gebrochen.

Etwas aber ist in jeder Rede gleich: Das sind die Pointen. Die funktionieren nur, wenn man sie so und nur so erzählt. Das setzt voraus, ein bisschen damit herumzuprobieren. Wenn aber die Form gefunden ist und große Gruppen über die Pointe lachen, wird nichts mehr verändert. Pointen sind scheue Wesen, die sehr leicht auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Dann braucht es Profis, um sie wiederzufinden und an die kurze Leine zu nehmen.

Nach oben gibt es keine Grenze. Allein der Vergleich mit den großen Rednerinnen und Rednern bei Greator oder Ted.com wird die meisten Firmenlenker und Chefinnen alt aussehen lassen. Aber je nach Ehrgeiz der Politikerin oder des Redners kann man das jedes Jahr ein bisschen verbessern. Es kommen Requisiten zum Einsatz, Filme statt Folien, gespielte Szene oder Interaktion mit dem Publikum. Manchmal genügt es schon, dem Redner zu zeigen, was alles möglich ist, um ihn anzustacheln. Ein Ted-Vortrag, der mehr als drei Millionen Klicks hat, sollte einiges enthalten, was man nachmachen kann.