Sie waren bis Ende Juni dieses Jahres Director Communications and Public Affairs bei Nio in Europa. Insgesamt waren Sie fast fünf Jahre für das Unternehmen tätig. Jetzt haben Sie aufgehört. Warum?
Das Tempo in einem chinesischen Start-up muss man sich unglaublich hoch vorstellen. Jetzt möchte ich sprichwörtlich meine Akkus wieder aufladen. Außerdem strukturiert sich Nio in Europa noch einmal neu. Ich nehme diese Umstrukturierung als Gelegenheit, um auszusteigen.
Chinesische Unternehmen haben als Arbeitgeber oft keinen guten Ruf. Viele ziehen eine Verbindung zum chinesischen Staat und fragen sich zum Beispiel, inwieweit Daten der Mitarbeiter an diesen weitergegeben werden. Wie haben Sie Nio als Arbeitgeber kennengelernt?
Was die Unternehmenskultur angeht, mindestens auf Augenhöhe mit Audi und Mercedes. Nio wurde 2014 gegründet und hat sich vom ersten Moment an global aufgestellt. Deshalb war die Kultur anders, als man sie vielleicht von einem chinesischen Unternehmen erwartet.
Wie hat sich das konkret gezeigt?
Die Unternehmenskultur ist getrieben vom Gründer William Li. Für mich ist er ein sehr authentischer und inspirierender Leader. Er ist 2014 angetreten unter dem Claim „Blue Sky Coming“. Dieser Purpose war für viele eine starke Motivation, bei Nio zu arbeiten – auch für mich. Es ist ein sehr internationales und modern geführtes Unternehmen.
Inwiefern fühlte sich die Arbeit an wie in einem Start-up?
Der Gründer ist das entscheidende Element. Ich war zwölf Jahre bei Mercedes und Audi. Beide Unternehmen sind dadurch geprägt, dass sie von einem klassischen CEO gesteuert werden. Nio dagegen von einem Gründer – also einem Unternehmer, der das volle Risiko trägt. Der Gründer ist viel enger am Tagesgeschäft dran, trifft mehr Entscheidungen selbst und wird unmittelbarer einbezogen als ein klassischer CEO. Entsprechend höher ist das Tempo selbst außerhalb der Konzernzentrale in Shanghai.
Daimler, Audi, BMW und Volkswagen reklamieren eine bestimmte Unternehmenskultur für sich. Sie legen Wert darauf, als deutsche Automobilhersteller gesehen zu werden. Nio ist an der US-Technologiebörse Nasdaq gelistet. Gibt es etwas, das sich für Sie typisch chinesisch angefühlt hat?
Nein. Nio gründete sich als chinesischer Autobauer im Jahr 2014 – in einer Zeit, in der sich die europäischen Hersteller erst einmal wieder von Elektromobilität verabschiedeten. Das Unternehmen startete nahezu zeitgleich mit „Made in China 2025“, der wirtschaftspolitischen Initiative Chinas, ab 2025 Schlüsselindustrien wie Elektromobilität als Marktführer beherrschen zu wollen. Es geht um die Digitalisierung von Mobilität.
Inwieweit herrscht bei Nio Gewinnorientierung? Als das Unternehmen 2020 kurz vor der Pleite stand, eilte der chinesische Staat zur Hilfe.
Wir sprechen über ein Start-up, das erst zehn Jahre alt ist. Tesla hat 17 Jahre gebraucht, bis es in den Break-Even gehen konnte. Nio möchte am Ende des elften Jahres – also jetzt – in den Break-Even kommen und damit deutlich früher, als es Tesla erreicht hat.
Was für Leute arbeiten für das Unternehmen in Deutschland und Europa?
Das ist die bunteste Mischung an Menschen, die ich bisher in meinem Berufsleben getroffen habe. In Europa kommen die Beschäftigten aus fast 40 Nationen. Es sind Leute aus der klassischen Automobilindustrie dabei, aber auch aus dem Lifestyle-Bereich. Nio ist eine Premiummarke und braucht diese Kompetenz aus Lifestyle, Mode und Marketing. Die Autos werden in Europa designt – seit 2015 im Design-Center in München. Das ist immer der Schwerpunkt in Europa gewesen. Es kam dann 2021 die Vertriebsorganisation dazu.
Warum sind Sie 2020 mitten in der Coronazeit zu Nio gewechselt?
Im Jahr 2020 rauschen sämtliche Automobilaktien in den Keller. Daimler, BMW, Audi melden Kurzarbeit an. Die Bänder stehen überall still. Niemand kann sagen, wie es weitergeht. Gleichzeitig fragt mich Nio, ob ich Interesse hätte, bei ihnen einzusteigen. An der Börse ist das Unternehmen zu dem Zeitpunkt schon wertvoller als Mercedes, hat aber nur 9.000 Mitarbeiter. Das Ziel ist, den europäischen Markt zu betreten und sich gegen BMW, Audi und Mercedes im Premium-Segment zu positionieren. Als ich mir dann ein Video vom Nio Day auf Youtube angesehen habe, dachte ich mir, dass ich dorthin will.
Was ist an dem Event so besonders?
Es ist Nio kulminiert in diesem Day-Spektakel. Es stehen Menschen im Mittelpunkt – die Community. Das Auto ist das Ende der Reise. Aus allen Provinzen Chinas kommen junge Chinesen angereist – Digital Natives. Sie zelebrieren ein Riesenspektakel mit Show-Elementen. Bruno Mars tritt auf. Die Keynote hält jemand, der mich vom Äußeren an einen jungen Barack Obama erinnert: William Li. Als Inspirationsfigur für diese Automarke ist Li kommunikativ etwas, das man nur einmal im Leben bekommt.
Sie haben eine Vergangenheit bei Daimler und bei Audi. Das sind begehrte Arbeitgeber, die gute Gehälter zahlen. Gerade weil über dieses chinesische Unternehmen so wenig bekannt ist, stellt sich mir die Frage, ob es nicht riskant war, dorthin zu gehen. Warum diese Faszination?
Ich habe in meiner Daimler- und Audi-Zeit diverse IAAs, Detroit Motorshows und Genfer Automobilsalons mitgemacht. Alle drei Messen sind eingestellt worden. Warum? Die Öffentlichkeit hat gesagt: Wir können es nicht mehr sehen. Wir nehmen euch – der Autoindustrie – das nicht mehr ab. Für mich war das eine Zäsur, denn der Vorwurf traf auch direkt die Arbeit der Kommunikation und des Marketings. Sabotage-Aktionen von Fridays for Future oder Greenpeace wurden selbst 2021 bei der IAA in München noch medial sehr wirksam inszeniert, um diesen Abwärtstrend zu befeuern und um die Glaubwürdigkeit der Industrie infrage zu stellen. Nio hatte einen ganz anderen Zukunftsmarkt und eine andere Philosophie.
Sind Sie ein Elektroauto-Fan?
Geworden. Bei Audi und Mercedes wollten wir zwar Elektroautos vorführen, aber ich glaube, das Commitment zum Elektroauto im Management und Unternehmen war mit dem von Nio nicht zu vergleichen.
Nio kommt aus China, wo es ein ganz anderes Verständnis von Pressefreiheit gibt als in Deutschland. Inwieweit war der Unternehmensführung klar, wie Medienarbeit und Journalismus in Deutschland und Europa funktionieren?
Nio war 2018 als Unternehmen an die US-Börse gegangen. Entsprechend waren die internationalen Spielregeln bekannt. Es war klar, dass ich mich um die Kommunikation mit den meinungsbildenden Journalisten von Medien wie BBC, „Financial Times“, „The Economist“, aber auch dem italienischen „Spiegel“-Pendant „Panorama“, Reuters, der „Süddeutschen Zeitung“ oder der „FAZ“ kümmern sollte und es sich um klassische Pressearbeit handelt. Auch die Korrespondenten von ARD, ZDF, „Handelsblatt“ und „Spiegel“ in China waren meine Zielgruppe. Die Teilnahme an den in China stattfindenden Events wie dem Nio Day oder der Shanghai Motor Show 2023 habe ich organisiert. Roundtables, die Nio den Journalisten angeboten hat, liefen ohne jegliche Restriktionen ab. Im Gegenteil: Wir haben von Anfang an Offenheit gelebt.
Wie war es mit Standards bezüglich Arbeitszeit oder Urlaubstagen, die in Unternehmen wie Mercedes und Audi sehr hoch sind?
Alles vergleichbar mit Audi oder Mercedes. Das kann ich Ihnen sagen, weil ich in beiden Unternehmen ebenfalls Leitungsfunktionen hatte.
Wie groß war denn Ihr Team? Haben Sie das aufgebaut?
Es gab ein kleines Team in München. Das bestand aus fünf Personen, die sich auf europäischer Ebene um interne Kommunikation, digitale Kommunikation und Media Relations kümmerten.
In welcher Sprache kommunizierten Sie im Unternehmen? Englisch?
In München im Team war es Deutsch. In den Arbeitsbeziehungen mit den Märkten und dem Headquarter Englisch.
Was war genau Ihre Aufgabe? Was sollten Sie erreichen?
Es ging darum, eine neue Brand in Europa aufzubauen. In diesem Zusammenhang war es meine Aufgabe, die mediale Aufmerksamkeit auf die Premium-Positionierung zu lenken. Nio wollte sich auf Premium-Level gegen BMW, Audi und Mercedes positionieren und vor allem in den Tests der Automobilmedien gegen sie antreten. Das hat funktioniert.
Was war in Bezug auf Media Relations genau Ihr Job? Wie sah Ihr Daily Business aus?
Als Ende 2020 die Schlagzeilen von der Börse kamen, Nio in China sei wertvoller als BMW und Mercedes, ging es quasi darum, sich bereit zu machen für die zu erwartenden Medienanfragen der Wirtschaftspresse. Natürlich wollten Medien wie „Financial Times“, Bloomberg, Reuters oder „Handelsblatt“ in Deutschland wissen, wer das ist. Insofern bestand mein Job ab Ende 2020 hauptsächlich aus Media Relations und vor allem aus der Positionierung des Founders William Li. Zu erklären, was er vorhatte.
Wie sind Sie vorgegangen?
Es ging darum, im ersten Jahr Gespräche zwischen Li und westlichen Medien in Gang zu bringen, die ihn immer als den chinesischen Elon Musk verkaufen wollten. Wir haben dann 2021 diverse Exklusivinterviews gemacht. 2021 war das Jahr, als Nio nach Europa kam und die europäischen Medien wissen wollten, wer das ist. Im Sommer 2021 gab es zusätzlich einen Neustart der IAA. Damit war der Weg vorgegeben, wie wir strategisch kommunizieren. Das erste Interview war im Mai 2021 mit dem „Spiegel“, in dem wir bekanntgaben, dass Nio 2022 in den deutschen Markt eintreten will.
Ich war 2023 auf der IAA in München. Da war der Tenor in den Medien, dass die chinesischen Hersteller den deutschen Markt für Elektroautos überrollen werden. Inwieweit mussten Sie sich von den anderen chinesischen Herstellern abgrenzen? Was waren Ihre Kernbotschaften?
Sie müssen die IAA 2021 und 2023 unterschiedlich betrachten. Die IAA 2021 war für Nio sozusagen die Carte Blanche. Es gab sonst keine Hersteller aus China, die von Interesse waren. 2021 hieß es: Tesla versus Nio. Das Charmante an der Situation war, dass beide aus Sicht der Medien als die Guten empfunden wurden. Es war die Zeit von Fridays for Future, CO₂-neutraler Mobilität, ESG und Nachhaltigkeitskommunikation. Wir wurden mit offenen Armen empfangen. Media Relations bei Nio war damals der leichteste Job, weil man nur darauf wartete, mit uns Interviews zu führen und Nio als Teil der Lösung zu präsentieren. Die Berichterstattung war damals fast 100 Prozent positiv bis neutral, weil wir uns kommunikativ sehr offen zeigten und Medien nach dem neuen Tesla und Elon Musk suchten.
Dem Kraftfahrzeugbundesamt zufolge verkaufte Nio 2024 in Deutschland lediglich 398 Neuwagen. Das ist doch sehr wenig.
Nio hat sich von Anfang an als Premiummarke definiert. Die Positionierung ist sehr hochpreisig. Das kann man nicht mit dem Volumensegment vergleichen. Man muss natürlich sagen, dass die Luft in Deutschland im Premium-Segment dünn ist und die Zahlen für eine Marke, die erst zwei Jahre in Deutschland unterwegs ist, ein Anfang sind.
Das mediale Interesse an Nachhaltigkeit hat zuletzt abgenommen. Auch Tesla hat ein ganz anderes Image als noch vor drei oder vier Jahren. Hatte sich dadurch Ihre Kommunikation erschwert?
Zwischen 2020 und 2023 gibt es eigentlich nur Nio aus China. Wir funkten zu dieser Zeit fast ohne Konkurrenz. Ab Ende 2023 ändert sich das radikal. BYD ist der Konzern, der weltweit zum ersten Mal mehr Elektroautos verkauft als Tesla. Die Redaktionen kümmerten sich um BYD. Es tauchten zudem weitere Marken aus China auf. Nio stand da etwa bei 35 Prozent Markenbekanntheit, die fast ausschließlich über Earned und Owned Media und ohne Werbebudget erreicht wurde.
Was waren die Botschaften für den europäischen Markt? Warum sollte man einen Nio kaufen?
Nio war zunächst unter dem Arbeitsnamen „Next EV“ angetreten. Das sind Elektrofahrzeuge, die nicht nur batteriebetrieben fahren können, sondern die jetzt auch Premium-Qualität besitzen. Sie bieten darüber hinaus etwas, das BMW und Co. noch nicht beherrschen: Software-Updates über die Cloud – neue Funktionen, die alle drei Monate als Download-Paket zur Verfügung gestellt werden. Das sogenannte „Smart EV“. Und schließlich der Nio-USP schlechthin: Tauschen statt Laden. In drei Minuten kann man eine leere Batterie tauschen lassen und ist damit um ein Vielfaches schneller als die Konkurrenz, die nur laden kann.
Inwieweit nimmt man Nio den Premium-Anspruch ab? Oder dominiert eher das Bild, dass es sich um einen chinesischen Hersteller handelt und man deshalb Abstriche machen muss?
Kommunikativ war für Nio die Verleihung des Goldenen Lenkrads 2022 entscheidend. Der Nio ET7, das erste Modell auf dem deutschen Markt, hat hier sogar den Mercedes EQE geschlagen. Das ist eine Referenz dafür, dass es gelungen ist, eine kritische Jury von der Premiumqualität zu überzeugen.
Kürzlich gab es eine ZDF-Reportage, in der sich der Journalist Florian Neuhann unter anderem die Nio-Fabrik in Hefei anschaute. Er schien sich recht frei bewegen zu können und hatte verschiedene Gesprächspartner. Wie waren die Standards bei solchen Journalistenbesuchen?
Nach meinen Erfahrungen bei Audi und Mercedes sind die Standards diesbezüglich vergleichbar. Nios Anspruch unter meiner Leitung war, dass wir uns gegenüber Journalisten offen und transparent zeigen und tendenziell weniger bürokratisch und streng sind, als sie es von europäischen Unternehmen gewöhnt sind.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Nachhaltig. Das Heft können Sie hier bestellen.