Schnell geschnittene Videosequenzen zeigen posierende Models im Boss-Look. Dazu gibt es elektronische Musik. Schlagworte blitzen auf. Sie zoomen heran und zerfließen im Sound: „2023“ – „Boosting Brands“ – „Driving Innovation“ – „Advancing Digital“ – „Pushing Boundaries“ und zum Schluss „Hello Future!“. Es könnte ein Werbespot sein, ist es aber nicht.
Knapp 23 Sekunden dauert das Intro des jüngsten Online-Geschäftsberichts von Hugo Boss, dem Modekonzern mit Sitz im baden-württembergischen Metzingen. Augenscheinlich dient der Geschäftsbericht nicht nur der Offenlegungspflicht des börsennotierten Unternehmens und der nüchternen Präsentation von Zahlen. Der Bericht ist auch ein Mittel, die Markenkommunikation zu stärken und die Produkte in den Fokus zu rücken. „Die weltweit führende technologiegesteuerte Modeplattform im Premiumbereich“ zu sein, lautet die selbstformulierte Vision des Modeherstellers, der zuletzt allerdings mit Negativschlagzeilen auf sich aufmerksam machte: Stellen sollen aufgrund eines Gewinneinbruchs abgebaut werden.
„Grundsätzlich hat jeder Geschäftsbericht eine Branding-Funktion – allein dadurch, dass er die Corporate Identity widerspiegelt und natürlich deren Regeln befolgt“, sagt Martin Sagmüller, Chief Operating Officer bei Nexxar – der Agentur, die den Geschäftsbericht für Hugo Boss erstellt hat. Die Firma arbeitet auch für BASF, Deutsche Telekom und Volkswagen. „Für viele Stakeholder ist der Geschäftsbericht einer der ersten Berührungspunkte, wenn sie sich mit einem Unternehmen befassen“, erklärt Sagmüller.
Neue Zielgruppen
Das war schon so, als der Geschäftsbericht zuallererst ein Printprodukt war. Für Unternehmen ist der Bericht eine Art Hochglanz-Visitenkarte, in die viel Aufwand gesteckt wird – immer mehr auch in das Storytelling. Früher war klar: Der Geschäftsbericht – gemeint ist in der Regel der Konzernabschluss eines Unternehmens mit Anhang und Lagebericht – wurde für sachkundige Finanzprofis, Investoren und die Aktionäre eines Unternehmens erstellt. Der Fokus habe auf der Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen gelegen, wie Accounting-Experte Henning Zülch im Gespräch erläutert.
Er leitet den Lehrstuhl für Rechnungswesen, Wirtschaftsprüfung und Controlling an der HHL Leipzig Graduate School of Management. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Finanzmarktkommunikation und speziell das Corporate Reporting. Seit 2014 verantwortet er den Wettbewerb „Investors’ Darling“, der die Finanzkommunikation der 160 größten Unternehmen aus Dax, M-Dax und S-Dax unter die Lupe nimmt. Die Ergebnisse werden jedes Jahr im „Manager Magazin“ veröffentlicht. Der Geschäftsbericht wird dabei laut Zülch nach wie vor als „Reference Book“ einer effektiven Finanzkommunikation angesehen.
„Finanzkommunikation ist ein öffentliches Gut geworden“, sagt Wirtschaftsprofessor Henning Zülch von der HHL Leipzig Graduate School of Management. © Daniel Reiche
Zülch sagt, den sachkundigen Leser allein gebe es nicht mehr. Neue Stakeholder bis hin zu Aktivistengruppen sind auf den Plan getreten, befördert durch die Nachhaltigkeitsdebatten der vergangenen Jahre und durch ein verändertes Mediennutzungsverhalten: Online ist wichtiger als Print, Finfluencer berichten über Unternehmen neben etablierten Medien wie das „Handelsblatt“ oder die „FAZ“.
Zugleich sind die Rezipienten anspruchsvoller und kritischer geworden. So gehören einer Untersuchung der Wirtschaftsuniversität Wien zufolge Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen, Journalist*innen unterschiedlicher Ressorts und auch (potenzielle) Bewerber*innen heute ebenfalls zur typischen Leserschaft eines Geschäftsberichts.
Die größte Gruppe von Rezipienten jedoch bilden nicht externe Stakeholder, sondern die eigenen Mitarbeitenden. Die lesen Geschäftsberichte, weil sie wissen wollen, wie es ihrem Arbeitgeber geht und wie er in Sachen Nachhaltigkeit und Strategie aufgestellt ist – in Zeiten, in denen Fachkräfte gesucht werden, schauen diese genauer hin.
All diese unterschiedlichen Stakeholder müsse die Finanzkommunikation auf einmal bedienen, sagt Zülch. „Finanzkommunikation ist ein öffentliches Gut geworden“, betont er. „Und das bedeutet: Die Menschen müssen heute anders informiert werden als früher.“
PDF weiterhin Standard
Hugo Boss gehört zu den Unternehmen, die den von Zülch formulierten Anspruch erfüllen. Auch Adidas, BASF oder die Deutsche Telekom schneiden in Rankings gut ab. Sie wissen, dass ein PDF allein den veränderten Bedürfnissen nicht mehr gerecht wird, und bieten ihren Geschäftsbericht als sogenannte Full-HTML-Microsite an: Zahlen werden in interaktiven Infografiken präsentiert, Vorstände tragen die wichtigsten Botschaften in Videos vor, Tagging-Features und Suchfunktionen erleichtern die Navigation.
Der Geschäftsbericht von Hugo Boss – ob als PDF oder HTML-Microsite – stärkt die Markenkommunikation des Unternehmens und rückt dessen Produkte in den Fokus. © Cover Hugo Boss
Noch sind sie mit dieser technisch anspruchsvollen Präsentation in der Minderheit. Zwei Drittel der 160 Dax-Unternehmen boten ihre Geschäftsberichte 2022 online ausschließlich als PDF an, wie die Analyse von Zülchs Team ergab. Betrachtet man ausschließlich die Dax-40-Unternehmen, sieht die Quote zwar anders aus. Für das Geschäftsjahr 2023 haben 26 der 40 Dax-Unternehmen (65 Prozent) – zusätzlich zum PDF – einen Online-Bericht vorgelegt. Doch davon sind 16 Berichte hybrid, das heißt, das PDF ist wesentlicher Teil des Reports.
Zugleich werden die PDF-Dokumente immer länger. Die Dax-Geschäftsberichte des Jahres 2023 umfassen einer Analyse der Mainzer Marketingagentur Ryze Digital zufolge im Schnitt 314 Seiten. Die Anzahl an reinen Online-Berichten dagegen stagniert.
Unternehmen verspielen damit auch Chancen. Neben einer nutzerfreundlichen Aufbereitung und Bedienung sowie einem responsiven Design ermöglicht ein HTML-Bericht nämlich eine bessere Auffindbarkeit über Suchmaschinen. Etwa ein Drittel aller Zugriffe auf einen HTML-Bericht erfolgt über Suchmaschinen wie Google, schreiben Zülch und Nexxar-Chef Eloy Barrantes in einem gemeinsamen Aufsatz. So können „alte“ Geschäftsberichte durch unvorhergesehene Entwicklungen oder neue Quartalszahlen wieder an Relevanz gewinnen. Geschäftsberichte dokumentieren die Historie eines Unternehmens. Sie liefern Transparenz und zeigen Unregelmäßigkeiten in der Retrospektive auf, wie man im Fall Wirecard sehen konnte.
Storytelling und Humor sprechen Leser an
Am Ende soll ein Geschäftsbericht vor allem glaubwürdig sein und Vertrauen schaffen. Wie die Daten von Medien und Investoren interpretiert werden, können Unternehmen mit ihrer eigenen Deutung beeinflussen. Geschäftsberichte konkurrieren um die begrenzte Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser. Snackable Content, interaktive Features, Storytelling – alles, was den Leser anspricht, ist laut Zülch erwünscht, solange es der Gesamtstory des Unternehmens zuträglich ist und nicht vom Wesentlichen ablenkt.
Allzu werblich sollte ein Bericht daher nicht wirken. „Gutes Financial Storytelling hat immer beides: Data and Soul“, sagt Nexxar-COO Martin Sagmüller. Die Story sollte entlang der zentralen Entwicklungen des Geschäftsjahres ausgerichtet und mit Kennzahlen unterfüttert werden. Das Storytelling diene als „Proof of Concept“ für die eingeschlagene Strategie und veranschauliche, was das konkret bedeutet.
Das schließt übrigens auch Humor und Gamification nicht aus. Scrollt man zum Beispiel durch die Geschäftsberichte von Vorwerk, dem Anbieter der Premium-Küchenmaschine Thermomix, fällt der lockere, informelle Stil auf, der den Leser durch die Welt und die aktuellen Themen des Wuppertaler Unternehmens führt. Seit dem Bericht 2022 gilt der Grundsatz „Digital First“: Es gibt eine interaktive Online-Version, bei der die wichtigsten Kennzahlen und Storys auf einer Microsite abgebildet werden und weiterführende Informationen in einem PDF-Dokument hinterlegt sind.
So werden die Leser der aktuellen Online-Ausgabe, die gemeinsam mit der Mainzer Agentur 3st Kommunikation umgesetzt wurde, beispielsweise zu einem virtuellen Erkundungsflug zu Baustellen in Wuppertal und Frankreich mitgenommen: „Wir haben den Luftraum über Wuppertal verlassen und treten soeben in die Umlaufbahn des Mondes ein. Kleiner Scherz – wir wollten nur mal testen, ob Sie geistig noch voll dabei sind.“ Oder man lernt die Arbeit eines Entwicklungsingenieurs kennen: „Jowan Yesdin ist – Achtung, jetzt wird’s kompliziert – Cross Functional Clusters Design Entwicklungsingenieur Verpackung bei Vorwerk. Heißt: Er verantwortet die Entwicklung und Optimierung aller Verpackungen unserer Gruppe. Heißt auch: tüfteln, tüfteln und nochmals tüfteln.“ Zwischendurch darf man den Koffer der Vertriebschefin packen oder raten, in welcher Sprache die Vorwerk-Berater rund um den Globus zur Tür hereingebeten werden.
Gamification dient dazu, Leser zu binden und ihre Verweildauer zu erhöhen. © Screenshot/Vorwerk.de
So ergibt sich ein Bild von einem internationalen, menschelnden Unternehmen. Was zum Markenkern passt: „Vorwerks Markenkern sind Innovationen, Emotionen und Leidenschaft: ‚Passion is our strongest source of progress and we empower people to ignite it every day‘“, sagt Nicole Herbolt, PR-Managerin bei der Vorwerk-Gruppe. „Als Direktvertriebsunternehmen leben wir davon, dass Menschen für ihre Tätigkeiten und die Produkte brennen und mit Spaß bei der Sache sind.“
Vorwerk versteht den Geschäftsbericht schon seit den Achtzigerjahren als ein PR-Instrument, das dieses Selbstverständnis widerspiegeln und nach außen tragen soll. Die humorvolle und unterhaltsame Gestaltung soll dazu beitragen, dass Leser*innen länger auf der Seite verweilen und sich mit dem Unternehmen beschäftigen. „Farbenfroh, humorvoll und alles andere als langweilig – so haben wir uns unseren Geschäftsbericht vorgestellt und so würden wir ihn heute auch beschreiben“, resümiert Herbolt.
Social Media mitdenken
Die genannten Unternehmen setzen nicht allein darauf, dass Menschen den Geschäftsbericht von allein finden. Im Sinne des „Push Reportings“, wie Zülch und Barrantes es formulieren, verfolgen sie eine auf Investor Relations zugeschnittene Social-Media-Strategie. Elemente wie Storys oder Kennzahlen werden unterjährig fortlaufend ausgespielt und so das Interesse am Bericht aufrechterhalten. Vor allem an Linkedin kommt ein Unternehmen heute nicht mehr vorbei.
Umgekehrt würden bei Nexxar in Wien Reports bereits im Vorhinein für Social Media mitgedacht und entsprechend gestaltet. CEO-Videos werden beispielsweise im Hochkant-Format und Storys in kurzen, Reel-ähnlichen Formaten aufgenommen. Ein solcher Aufwand kostet. Bei Nexxar spricht man von bis zu 150.000 Euro für einen Premium-Geschäftsbericht im ersten Jahr, manchmal auch mehr. Danach werde es günstiger, weil Initialkosten wegfallen. Mit 30.000 bis 50.000 Euro für einen kleineren Bericht oder einen reinen Online-Bericht müsse man aber rechnen.
Im Unternehmen selbst kann der Aufwand auch sehr unterschiedlich ausfallen. IR-Verantwortliche, die oft aus dem Accounting-Bereich kommen, müssten stärker mit den PR-Kollegen zusammenarbeiten, meint Berater Zülch. Kommunikationspläne müssen erstellt, Social-Media-Strategien ausgearbeitet und umgesetzt werden. Aus Sicht von Zülch sollten beide Bereiche künftig integriert arbeiten – unter dem Dach „Stakeholder Relations“.
Eine Herausforderung stellt die CSRD-Richtlinie der Europäischen Union dar, die derzeit sukzessive in Deutschland umgesetzt wird. Finanz- und Nachhaltigkeitsinformationen gehen damit künftig Hand in Hand. Die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zusammenhängend und glaubwürdig zu erzählen, wird somit weiter an Relevanz gewinnen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Brands. Das Heft können Sie hier bestellen.