Der Popstar Robbie Williams liegt in Unterhose im Bett und kommentiert Backstage-Videos. David Beckham schmorrt in seinem Garten Rinderbrust. Und Basketball-Legende Michael Jordan macht den entscheidenden Korb zum Titelgewinn – trotz eines Magen-Darm-Virus: Solche Einblicke gibt es auf Netflix. Sie sind Teil von Doku-Serien, die Stars, Sport, Verbrechen, Wirtschaft, Essen, Natur oder Reisen in den Mittelpunkt stellen.
Dokumentationen boomen genauso auf Amazon und Apple und selbst im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Mal laufen sie als Serie. Mal als Film. Sie liefern eine spannende Erzählung angereichert mit intimen Details und Hintergründen. Der Aufbau ähnelt dem von Fiktion. Durch die Streamingplattformen hat sich der Zugang verändert und die Qualität erhöht, was auch an den stattlichen Budgets liegt.
Für Marken öffnet sich hier eine neue Tür. Erstmals konsumieren Menschen in Deutschland mehr Inhalte über die Plattformen als über TV: 77 Prozent nutzen sie wöchentlich. Bei den 18- bis 34-Jährigen sind es sogar 92 Prozent, ermittelte Nielsen. Die Medienwelt wird komplexer. Aber wenn es um Freizeit geht, gibt es neue Inseln der Aufmerksamkeit, allen voran Amazon Prime und Netflix, die klaren Marktführer in Deutschland. Beide wollen mehr eigene Inhalte produzieren, darunter zunehmend Nichtfiktionales.
Dem Analysedienst Parrot zufolge ist jede siebte gestreamte Serie in den USA heute eine Doku. „Tiger King“ war die zweiterfolgreichste Netflix-Produktion im Jahr 2020, gleich hinter „Bridgerton“. „The Last Dance“ schaffte es mit der Geschichte um Michael Jordan in die Top 50. Der hat die Serie sogar mitproduziert und erfolgreich seine Turnschuhmarke und seinen Werbepartner Nike positioniert. „Our Planet“ erreichte in zwei Wochen knapp 22 Millionen Haushalte. An der Naturserie waren nicht nur David Attenborough, sondern auch der WWF beteiligt. Der schreibt, die Serie wolle „die Verletzlichkeit des Planeten“ zeigen und „was wir alle dazu beitragen können, um ihn lebenswert zu erhalten“.
Der Einfluss aus Hollywood
Dass Dokumentationen Verhalten verändern können, haben schon „An Inconvenient Truth“ über die Klimaschutzkampagne von Al Gore oder „Supersize Me“ bewiesen, ein Film, in dem der Protagonist ausschließlich Fastfood isst und so dick und krank wird. Das ist keine neue Erkenntnis, hat McDonald’s aber dazu gebracht, sein Menü anzupassen. Es geht also nicht nur um die Macht des Faktischen. Es geht auch um die Art und Weise, wie es erzählt wird. Und die verändert sich gerade aufgrund der Sehgewohnheiten aus Hollywood.
Mitten im Trend steht Dominic Crossley-Holland. Er leitet den Bereich Unscripted bei RSA Films. Das ist das Unternehmen von Ridley Scott, dem Regisseur und Produzenten, der unter anderem für „Alien“, „Blade Runner“ und „Der Marsianer“ verantwortlich ist. RSA Unscripted sitzt in London, will auch „erstklassige Filme“ liefern, nur eben über Fakten und Personen. „Es ist die DNA unseres Unternehmens, emotionale Geschichten zu erzählen, die ein weltweites Publikum fesseln“, sagt Crossley-Holland. Er ist selbst Journalist, war lange Jahre bei der BBC beschäftigt und ist unter anderem verantwortlich für die neue Netflix-Serie über Robbie Williams. Auch immer mehr Unternehmen würden ihn kontaktieren, sagt er. Und: „Documentary Storytelling ist die spannendste Entwicklung, wie Marken Öffentlichkeit erreichen. Das Publikum will gute Geschichten. Im Gegensatz zu einem Werbespot oder Kurzvideo können Dokumentarfilme nachhaltig Werte vermitteln und eine Beziehung aufbauen.“
Storytelling gehört für Unternehmen zu ihrer PR- und Marketingstrategie. Videos erreichen das Gehirn schneller und können Botschaften besser transportieren. Social Media hat den Trend verstärkt, dass Unternehmen Videos nutzen, um Geschichten zu erzählen, sei es über Mitarbeitende, Produkte oder Fiktives wie die S-Bahn Berlin in der Youtube-Serie „Das Netz“. Die Kraft des Video-Storytellings ist klar. Nur scheinen viele noch nicht das Potenzial hochwertiger Dokumentationen zu erkennen. Im neuesten Report „State of Marketing 2024“ beschreiben McKinsey und die Zeitschrift „Absatzwirtschaft“ auf 130 Seiten, wie wichtig Storytelling für Werbung und Social Media sei, aber nicht ein Wort über Dokumentationen. Dabei sind Streamingdienste wichtige Plattformen, die jetzt die Tür zur Werbung öffnen. Hier entsteht ein lukrativer Markt.
„Es gibt Millionen Arten, um mit einem Publikum in Kontakt zu treten. Alle haben ihre Berechtigung“, sagt Crossley-Holland. Natürlich werde es weiterhin Werbung und Clips für Social Media geben. Das Documentary Storytelling sei eine neue Dimension, die es ermögliche, ein Publikum emotional zu erreichen und eine tiefere Beziehung zu ihm aufzubauen. Idealerweise kämen die Marken selbst dabei gar nicht mehr vor: Es gehe darum, Werte und Themen in den Mittelpunkt zu stellen.
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Eine Firma, die darauf spezialisiert war, hochwertige Filme mit Werten zu produzieren, war Participant. Sie war ein Pionier für „Social Impact Entertainment“, also Unterhaltung, die gesellschaftlichen Einfluss hat. NGOs und Stiftungen finanzierten Filme wie „Food Inc.“ über die Lebensmittelindustrie, „The Cove“ über Delfinschlachten und eben Al Gores „An Inconvenient Truth“. 18 Emmys, 21 Oscars, 148 Nominierungen bei beiden und weitere Preise: Sie waren erfolgreich. Doch 2024 hat das Unternehmen dichtgemacht.
„Participant ist ein gutes Beispiel dafür, wie schwer das Geschäft um Dokumentarfilme ist, die einen Purpose verfolgen. Viele Produktionsfirmen flüchten sich in Unterhaltung, da es sicherer ist. Aber die Kraft, die solche Filme haben, ist groß. Und wenn ich jetzt ein Unternehmen aufbauen würde, würde ich genau in den Bereich investieren. Es entsteht eine Lücke, die Marken füllen, wenn sie in erstklassige Dokumentationen investieren, so dass sie an der Spitze einer neuen Entwicklung stehen“, sagt Crossley-Holland.
Budgets verschieben sich
Dass Marken anfangen, ihre Budgets umzuverteilen, zeigt sich, indem sie Produktionen gründen und Studios bauen. Nike besitzt seit 2021 Waffle Iron Entertainment, das Sport als „Bestandteil des täglichen Lebens“ positionieren will. Der Luxuskonzern Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH) hat das Unternehmen 22 Montaigne Entertainment gegründet, um eigene Produktionen zu stemmen. Man sehe sich als ein „Haus der Geschichten und Schöpfer von Kultur“, sagt Nordamerika-CEO Anish Melwani. Patagonia nennt seine Produktion „ein Kollektiv von Storytellern, die im Namen unseres Heimatplaneten Filme machen“. Der neueste ist 100 Minuten lang und stammt von US-Regisseur Stacy Peralta, selbst Skater, Surfer und Gewinner beim Sundance Film Festival.
„Unternehmen müssen Weltklasse-Filmemacher engagieren und ihnen vertrauen. Sie brauchen Mut“, sagt Crossley-Holland. Sie müssen loslassen und sich darauf verlassen, dass die Profis ihre Intention umsetzen und dabei ein guter Film entsteht. Für Profis der Kommunikation ist das eine Herausforderung: Über Jahre haben Lehrbücher erklärt, die Macht über das Storytelling nicht aus der Hand zu geben. Eine Produktion ist zudem kostenintensiv: Von „mehreren Millionen“ spricht Crossley-Holland. Gut zwei Jahre dauere es von der Idee bis zum fertigen Produkt.
Wer jedes Detail kontrollieren will, wird mit Documentary Storytelling nicht glücklich. Es gibt Fälle, die eindimensionaler sind. Michael Jordan wurde dafür kritisiert. Unterhalten hat „The Last Dance“ trotzdem. In den USA hat ein Designunternehmen gezeigt, wie es nicht geht, und mit „Invision“ eine einstündige Dokumentation produziert, in der fast nur Personen in eine Kamera sprechen und das ganze Drama fehlt. Ohne den Glamour aus Hollywood und sein Know-how funktioniert es eben nicht.
„In jedem Leben gibt es Höhen und Tiefen. Kein guter Film wird nur eine Seite zeigen. Sie machen den Spannungsbogen erst aus“, sagt Crossley-Holland. Auch Robbie Williams zeigt seine Drogensucht, Naivität und Eitelkeit. Es sei ein schmaler Grat, authentische Geschichten zu erzählen, ohne Personen zu diffamieren. Material, das spannend sei, aber in der Öffentlichkeit schädlich, sortiere er aus. Es ist kein Investigativjournalismus, aber die Wirklichkeit soll auch nicht verzerrt werden.
Wer mutig ist, wird belohnt. Und zwar mit echter Rendite. Mit einem höheren Markenwert, mehr Interesse und einer tieferen Beziehung zur Öffentlichkeit. Aktuell sitze Crossley-Holland an einem Thema, das sei emotional sehr stark. Es werde Menschen „zum Lachen und zum Weinen bringen“ und die Marke zum Sundance Film Festival, sagt er, ihr „Glamour zurückgeben“ und sie auf den roten Teppich holen: „Ich möchte Oscars für Marken gewinnen. Und ich bin mir sicher, dass uns das gelingen wird.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Visuell. Das Heft können Sie hier bestellen.