Wild Germany: Themen jenseits des Alltags

Manuel Möglich steht auf einem Bauwagenplatz in Berlin und berührt mit beiden Händen einen Baumstamm. Dabei hält er die Augen geschlossen und kaut auf einem Stück Rinde herum, während der Kurierfahrer Jens Adolf Frese neben ihm psychedelische Gesänge in einer Fantasiesprache anstimmt. „Versuch mal, in den Baum reinzufühlen“, hatte Frese den Journalisten zuvor aufgefordert. Möglich  blickt ihn fragend an, wirkt irritiert, aber auch bemüht. So beginnt die Folge zum Thema Schamanismus, Teil der Reportage-Reihe „Wild Germany“, die von 2011 bis 2013 auf ZDFneo ausgestrahlt wurde.

Im Vorspann zu jeder Folge erklärt der freie Journalist:
„Ich gehe den unglaublichsten Gerüchten und Geschichten nach. Kommt mit mir auf einen Trip durch dieses aufregende Land, das wir Zuhause nennen und das ihr so noch nie gesehen habt.“ In den meisten Fällen ist das wohl nicht zu viel versprochen. Möglich nimmt in jeder der 24 halbstündigen Folgen ein Phänomen oder eine Subkultur irgendwo in Deutschland unter die Lupe, taucht ein in die Welt von Bodybuildern, Ultras, Pornodarstellern oder eben Schamanen. Mit uns hat er über die Kommunikation mit Randgruppen aus journalistischer Perspektive gesprochen.

 

Herr Möglich, sollten sich Medienschaffende in Deutschland mehr trauen?
Manuel Möglich: Ja, das sollten sie auf jeden Fall! Ich wünsche mir viel mehr Mut bei den Verantwortlichen, die über Formate und Inhalte in Print und TV entscheiden. Ich glaube, die Konsumenten würden das honorieren. Man darf ihnen da weitaus mehr zumuten, als es zurzeit der Fall ist.

Mit Wild Germany haben Sie den Zuschauern einiges zugemutet. Wie sind Sie auf die Phänomene und Gruppen gekommen, die sie für die Reihe beobachtet und porträtiert haben?
Überlegt haben wir uns die Themen in einem Kernteam von drei Personen. Jeder saß mit einem weißen Blatt da und hat aus seinem persönlichen Interesse heraus Ideen aufgeschrieben, schließlich gab es einige Überschneidungen. Am Ende hat ein ZDF-Redakteur seine Meinung dazu gegeben.

Schamanismus und Bodybuilding haben auf den ersten Blick nicht besonders viel gemeinsam. Was ist das Bindeglied zwischen allen Folgen?
Gemeinsam haben alle Themen, dass ich mich wirklich für sie interessiert habe. Anders wäre die Umsetzung gar nicht möglich gewesen. Der Plan war, immer einen besonderen Aspekt herauszustellen und entweder grandios damit zu scheitern oder etwas Neues zutage zu bringen. Es sind übrigens nicht alles abseitige Geschichten, auch wenn das die meisten Menschen mit dem Format verbinden.

Sind auch mal Ideen geplatzt, die bereits anrecherchiert waren?
Das hatten wir öfter. Es gab Fälle, in denen Personen einen Tag vor Drehbeginn abgesagt haben.

Foto: ZDF/Julius Theis

“Wir möchten weder objektive Berichterstattung vorgaukeln noch PR für die Gruppen machen.” (c) ZDF/Julius Theis

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Für die erste Staffel hatten wir eine Folge zum Thema „Islamistischer Rap“ gemacht. Einer meiner Interviewpartner war der Rapper Denis Cuspert, früher besser als Deso Dogg bekannt. Mittlerweile sucht der Verfassungsschutz nach ihm. Für die Folge waren wir damals aber mit einem gefühlt noch extremeren jungen Mann in Frankfurt verabredet, der wenige Stunden vor dem Dreh nicht mehr zu erreichen war. Uns haben oft Kandidaten abgesagt. Es gab aber auch Ideen, die wir nach ers­ter Recherche selbst gecancelt haben. Über andere Themen, zum Beispiel Motorradgangs wie die Hells Angels, ließe sich unmöglich eine Folge machen. Schließlich muss es immer eine gewisse Bereitschaft der anderen Seite geben, sich zu öffnen und uns in die Szene eintauchen zu lassen.

Wie haben die Menschen auf die Bitte, mit Ihnen zu drehen, reagiert? Viele waren doch sicher erst einmal erstaunt, eine Presseanfrage zu bekommen.
Einige ja, manche hatten aber auch schon eher negative Erfahrungen mit der Presse gesammelt. Wir hatten viel Glück. Wir haben aber auch im Vorfeld die Menschen getroffen und intensiv mit ihnen gesprochen, wahrscheinlich mehr, als es bei anderen Produktionen der Fall ist. Es war wichtig, zu signalisieren, dass wir es ernst meinen und sie nicht vorführen wollen.

Bei welchem Thema war besonders viel Überzeugungsarbeit gefragt?
Die Ultras-Folge war die mühsamste von allen. Ich bin im Vorfeld dreimal nach Düsseldorf gefahren, um zu reden und gemeinsam mit der Gruppe zum Fußballspiel zu gehen. Die Beteiligten waren sehr kritisch und wir wollten ihnen zeigen, dass wir nicht für eine halbe Stunde vorbeikommen und sie sich vor der Kamera ganz verrückt geben sollen. Ich habe versucht klarzumachen: Wenn es ein langweiliger Tag wird, ist das auch in Ordnung, wir wollen überhaupt nicht, dass irgendwas extra für den Dreh gestellt wird.

Sie haben in Ihren Reportagen auf Ironie und pädagogische Argumentationen verzichtet. Ist das der Grund, warum sich die Leute Ihnen geöffnet haben?
Das kommt sicher hinzu. Die Leute geben uns einen Schlüssel zu ihrer Welt, das müssen und wollen wir respektieren. Allerdings natürlich ohne uns zu verbiegen: Wir möchten weder objektive Berichterstattung vorgaukeln noch PR für die Gruppen machen.

Ist es Ihnen denn immer gelungen, den Menschen trotz ihrer befremdlichen Interessen oder Lebensgewohnheiten ohne Vorbehalte gegenüberzutreten?
Das klappte mal besser und mal weniger gut. In der Schamanismusfolge ist mir das am Ende gelungen, nachdem ich mich mit der Szene schon ein wenig vertraut gemacht hatte. Es ist doch so: Wenn man ein ernsthaftes Interesse an einem Thema hat und Lust, sich damit auseinanderzusetzen, spürt das das Gegenüber. Das hatte ich, und daher war es gar kein großes Problem.

Welche Themen haben Sie besonders nachhaltig verstört – oder besser: beschäftigt?
Verstört trifft es meistens schon ganz gut! (lacht) Das war unter anderem die Folge zu Crystal Meth – als wir die 2010 drehten, war die Droge in Deutschland noch nicht so bekannt. Aber auch die zum Thema Satanismus war sehr aufwühlend. (Anm. d. Red.: In dieser Folge trifft der Journalist unter anderem zwei Mädchen, die seit ihrer Kindheit Mitglieder und Opfer von Satanskulten sind.) Teilweise sind es aber auch die lustigen Folgen, die einem in Erinnerung bleiben, wie zum Beispiel die zum Thema Porno oder zu Dogging (Anm. d. Red.: Sex an öffentlichen Plätzen).

Wie haben Sie sich vorbereitet, wenn ein Thema feststand?
Zuerst einmal habe ich mich ganz normal in Magazinen und im Netz in die Themen eingelesen. Zu manchen gab es allerdings kaum Literatur. So ging es mir bei der Folge zur Körperintegritätsidentitätsstörung BIID, in der es um Menschen geht, die den Drang verspüren, sich gesunde Gliedmaßen amputieren zu lassen. Wir sind dann in Kontakt mit Redakteuren der „Süddeutschen“ getreten, die dazu schon einmal einen Film gemacht hatten. Diese hatten uns eigentlich jede Hoffnung genommen, einen Betroffenen zu finden, der im Fernsehen darüber spricht. Wenn man sich im Netz auf Spurensuche begibt, hat man aber oft auch bei heiklen Themen Erfolg. In einem Forum haben wir dann mehrere gefunden. Oft lag im Kontakt zu einer Person der Schlüssel zu weiteren.

Gab es kein Thema, für das Sie vergeblich nach Ansprechpartnern gesucht haben?
Nein, das ist nicht vorgekommen. Die Themen die wir nicht gemacht haben, sind geplatzt, weil wir gemerkt haben, dass sie aus anderen Gründen nicht zu realisieren sind.

Was, glauben Sie, war für die Menschen das ausschlaggebende Argument, sich vor einer Kamera zu äußern?
Da kann ich nur mutmaßen – es gibt bestimmt ganz verschiedene Motivationsgründe. Bei einigen war es sicher ein Stück weit Narzissmus. Anderen ging es vielleicht auch darum, Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind, zu helfen, ihnen zu zeigen, wie sie damit umgehen. Manche haben auch gesagt: „Ich habe keine Lust mehr, die Berichterstattung zum Thema so einseitig zu sehen, und vertraue darauf, dass ihr andere Facetten zeigt.“ Das war zum Beispiel bei den Ultras so.

Foto: ZDF/Roger Eberhard

Die Folge zu Ultras, also fanatischen Anhängern einer Fußballmannschaft, gehörte für Möglich zu den mühsamsten. Bevor gedreht wurde, besuchte der Journalist die Fans einige Male in Düsseldorf, lernte sie kennen und leistete Überzeugungsarbeit. (c) ZDF/Roger Eberhard

Inwiefern haben Sie die Erlebnisse und Erkenntnisse persönlich bereichert? Immerhin waren Recherche und Konfrontation ja nicht immer ganz angenehm …
Auch Verstörendes kann eine Bereicherung sein. Ich habe persönlich erkannt, dass meine Toleranz und Akzeptanz gar nicht so ausgeprägt waren, wie ich sie vorher eingeschätzt hätte. Das hat mich überrascht. Dass ich ein Problem mit etwas hatte, das mich eigentlich gar nicht hätte stören dürfen. In solchen Situationen musste ich mir bewusst machen, dass der Mensch niemandem schadet, mit dem, was er tut, sondern nur seine Eigenheit auslebt. Ich glaube, ich bin durch Wild Germany ein bisschen weitsichtiger geworden. Es gibt nicht nur richtig und falsch. Und man muss lernen, damit umzugehen, dass es nicht auf alles eine befriedigende Antwort gibt.

Was haben Sie von den Zuschauern für Reaktionen bekommen?
Die meisten Rückmeldungen, die wir per Mail bekommen haben, waren positiv. Das hat mich fast ein bisschen erstaunt. Nach der Crystal-Meth-Folge haben mir zum Beispiel viele Lehrer für die Aufklärungsarbeit gedankt – obwohl wir niemals darauf abgezielt hatten, eine solche zu leisten. Besonders gefreut haben wir uns über Nachrichten von Menschen aus den jeweiligen Szenen. Da haben sich viele bedankt, dass wir uns dem Thema nicht so populistisch genähert haben. Oder dafür, dass sie erfahren haben, mit Problemen nicht alleine zu sein.

Was glauben Sie, woher kommt unsere Faszination für abseitige Themen?
Ich glaube, in jedem Menschen schlummert ein gewisser Voyeurismus. So funktionieren ja auch Unterhaltungsformate wie das Dschungelcamp. Der beobachtende Blick durchs Schlüsselloch fasziniert den Menschen. Hinzu kommt, dass wir in Welten gedrungen sind, von denen viele entweder noch nie etwas gehört haben oder in die sie selbst nie einen Einblick bekommen hätten. Das ist irgendwas zwischen Albtraum und Science-Fiction-Film, etwas Bizarres, das weit weg vom eigenen Leben ist.

Ist das „Normale“ zu langweilig?
Nee, überhaupt nicht. Ich habe mich nach den 24 Wild-Germany-Folgen bewusst für etwas Ultranormales entschieden und die Porträtreihe „Heimwärts mit …“ gemacht. Für mein ers­tes Buch, das im März erscheint, bin ich um den 20. April in eine Kleinstadt nach Namibia gefahren, wo angeblich noch Hitlers Geburtstag gefeiert werden soll. Die Mischung macht es eben.

Zum Schluss noch ein ganz anderes Thema: Was würden Sie Öffentlichkeitsarbeitern, die für ein ungewöhnliches oder sogar ein „Randgruppenthema“ PR machen, empfehlen, um Menschen dazu zu bringen, ihnen zuzuhören?
Ich glaube, man macht andere nur dann neugierig, wenn man ihnen die Karten offen und bereitwillig auf den Tisch legt. Dazu gehört auch, nicht immer nur die positiven Dinge aufzuzählen, sondern ebenfalls mit Schattenseiten offen umzugehen. So wird die Geschichte gleich viel klarer. Wer wirklich hinter der Gruppe oder dem Projekt steht und es so vielschichtig wie möglich präsentiert, wird auch das Interesse der anderen wecken können.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Randgruppen-PR. Das Heft können Sie hier bestellen.

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