Warum überwinden einige Menschen Krisen besser als andere?

Herr Siegrist, warum überstehen manche Menschen Krisen besser als andere?

Ulrich Siegrist: Weil manche Menschen, die in einer Krise weiter handlungsfähig bleiben, eine bestimmte Fähigkeit haben, die Psychologen „Resilienz“ nennen.

Resilienz?

Ich übersetze den Begriff gerne mit „Gedeihen trotz widriger Umstände“. Es ist ein Prozess, der dazu führt, dass Menschen großen Druck, Stress oder eine Krise ohne Schaden aushalten können. Resiliente Menschen besitzen eine mentale Widerstandskraft, die es ihnen ermöglicht, Krisen besser zu verarbeiten und ihnen auch etwas Positives abzugewinnen.

Aus Sicht des Resilienzkonzepts sind Krisen also nicht nur bedrohlich, sondern immer auch Chancen zur Weiterentwicklung?

Tatsächlich liegen in einer Krise immer beide Momente. Interessant ist an dieser Stelle, dass sich das chinesische Schriftzeichen für Krise (wei-ji) aus den Zeichen für Gefahr und Chance zusammensetzt. Die meisten Menschen tendieren dazu, kritische Situationen als Bedrohung wahrzunehmen. Wir können jedoch unter Umständen gestärkt aus einer Krise hervorgehen, wenn wir die Aufgaben, vor die sie uns stellt, erkennen und lösen.

Der Begriff Resilienz leitet sich vom lateinischen resilire, übersetzt abprallen oder zurückspringen, ab. Was kann ich tun, damit die nächste schwierige Situation auch an mir „abprallt“?

Resilienz ist tatsächlich keine angeborene Fähigkeit. In populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen wird gerne gepredigt: „Seien Sie optimistisch und schon wird alles gut“. Aber einen allgemeingültigen Masterplan, wie man mit schwierigen Situationen am besten umgeht, gibt es leider nicht. Es gibt aber Faktoren und Ressourcen, die die eigene Widerstandskraft positiv beeinflussen.

Die „innere Stärke“ ist also lernbar?

Zusammengefasst: Ja, sie ist lernbar, aber nicht kurzfristig in einem Zwei-Tage-Kurs. Es ist ein Prozess, in dem man sich immer wieder mit sich selbst und der Außenwelt auseinandersetzt und die Wechselwirkung zwischen äußeren Einwirkungen und den eigenen, persönlichen Prozessen bewertet.
 
Was zeichnet resiliente Menschen im Vergleich zu nicht resilienten Menschen aus?

Man darf nicht vergessen, dass auch resiliente Mensche in stressigen Situationen oder Krisen erst einmal überrascht und vielleicht auch etwas platt sind. Sie bleiben jedoch beweglich. Sie suchen auch in stressigen Situationen eher nach Lösungen, als sich dem Strudel der Krise zu überlassen.

Warum ist es wichtig, sich auf die positiven Erfahrungen mit Stress­situationen zu konzentrieren?

Oft erinnern wir uns in Krisen eher an negative Erfahrungen, an das Ohnmachtsgefühl, das uns im Nacken saß. Gleichzeitig funktioniert die menschliche Psyche aber so, dass wir uns auf die Dinge zubewegen, mit denen wir uns gedanklich beschäftigen. Deswegen ist es wichtig, sich gute Erfahrungen bewusst zu machen und innerlich abzuspeichern.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Ich habe Interviews mit Menschen geführt, die nach Unfällen aufgrund ihrer Verletzung längerfristig nicht arbeiten konnten. Auf die Frage, was ihnen geholfen hat, diese Krise zu bewältigen, sagten sie oft, sie hätten sich an zurückliegende Hindernisse erinnert und wie sie die überwinden konnten. Aus diesen positiven Erfahrungen haben sie Kraft geschöpft.

Gehört daher auch zum Resilienz-Prozess Krisensituationen im Anschluss zu analysieren?

Ja, allerdings geht es bei der Analyse nicht darum, Schwachstellen und Fehler aufzulisten. Was ich damit sagen will ist, dass bewältigte Krisen oder Stresssituationen reflektiert werden müssen, um zu erkennen, welche Mechanismen bei der Bewältigung geholfen haben. Fragen dafür sind beispielsweise: Was habe ich wann getan und warum ging es mir hinterher besser? Auf wen konnte ich mich bei Problemen verlassen? Sind diese Menschen weiterhin für mich da? Diese Fragen bereiten gleichzeitig auf mögliche folgende Krisen vor.

Sie sprachen vorhin von Faktoren, die die innere Stärke positiv beeinflussen. Zielen die eben genannten Fragen auf diese Kraftressourcen?

Genau, mit diesen Fragen kann man sich Ressourcen in Erinnerung rufen, die man aufgebaut hat und die einem helfen, schwierige Situationen durchzustehen. Dazu gehören persönliche Kompetenzen wie Humor, emotionale Stabilität, eine proaktive Grundhaltung und Lösungsorientierung; aber vor allem auch ein funktionierendes, unterstützendes Umfeld.

Wir haben jetzt angesprochen, wie man sich auf Krisen vorbereiten kann, warum man diese rückblickend reflektieren muss und welche Ressourcen man aufbauen sollte. Welche Mechaniken kann ich aber spontan mitten in stressigen Situationen einsetzen?

Wer sich in einer Krise oder Stresssituation befindet, braucht keine Ratschläge, sondern konkrete Hilfe. Sich, wenn auch kurz, abzulenken, kann helfen, die eigene Fixierung auf die Krise zu lösen. Da gibt es sicherlich den einen oder anderen Trick. Was wirkt, ist jedoch individuell unterschiedlich. Trotz des Stresses ist es wichtig und vor allem leistungsförderlich, immer wieder Momente einzubauen, in denen man kurz entspannt. Es ist nicht möglich, über eine lange Zeit leistungsfähig unter Volldampf zu fahren. Manchen hilft es, einmal um den Block zu laufen, anderen reicht schon der kurze Blick aus dem Fenster. Auch im größten Chaos sollte man daher auch einmal das Telefon klingeln lassen und sich diese Lichtmomente des Druckabbaus gönnen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Krisenkommunikation. Das Heft können Sie hier bestellen.

Weitere Artikel