Rangeln und Reden

Frau Grünewald, in Märchen wie „Aschenputtel“ oder „Frau Holle“ kommen die Stiefgeschwis­ter der Protagonisten nicht besonders gut weg. Sie intrigieren, sind neidisch und mischen sich ständig ein. Woher kommt dieses schlechte Image?
Katharina Grünewald: Die Vorsilbe „Stief-“ ist immer erst einmal negativ belegt. Das trifft in Märchen vor allem die Stiefmütter. Der zugrunde liegende Gedanke: Ein Elternteil stirbt und jemand Neues kommt hinzu, der nicht originär zur Familie gehört. Während der Vater weiterhin geliebt wird, wird die Wut über den Verlust der Mutter auf die Stiefmutter übertragen. Schließlich muss dafür ein Ventil gefunden werden. Und das sucht man meistens bei dem Teil, der noch nicht so ganz zu einem gehört – es ist natürlich praktisch, den Frust bei der neu hinzugekommenen Person abladen zu können. Mit Stiefgeschwis­tern verhält es sich ähnlich.

Und die positiven Aspekte werden unterschätzt?
Leider ja – dadurch, dass jemand hinzukommt, wird nämlich mitunter viel gewonnen: Durch das Fremde, die neuen Regeln, kann es mehr Abwechslung, Luft und Inspiration geben – wenn es gut läuft.

Damit es gut läuft, ist oft Ihre Unterstützung gefragt. Sie haben sich in Ihrer Kölner Praxis auf die Beratung von Patchwork-Familien spezialisiert. Worin besteht die größte Herausforderung, wenn zwei Familien zusammenwachsen sollen?
In der gegenseitigen Akzeptanz. Wenn man als Familie organisch wächst, entwickeln sich ganz bestimmte Muster und Strukturen, die die einzelnen Mitglieder bewusst gar nicht wahrnehmen. Wenn jemand Fremdes diese Gewohnheiten und Macken beobachtet, wird das absolut Selbstverständliche in Frage gestellt. So zum Beispiel: „Warum steht bei denen jeden Morgen Schokocreme auf dem Frühstückstisch?“ Zum einen muss man sich selbst in Frage stellen lassen, zum anderen akzeptieren, dass der andere auch seine eigenen Selbstverständlichkeiten mitbringt. Das merkt man erst, wenn es knallt.

Im Unternehmen ist es oft ähnlich. Von den Mitarbeitern wird immer mehr Flexibilität gefordert. Hoheitsgebiete werden zusammengefügt. Bereiche, die mit dem eigenen Aufgabenfeld bisher kaum verwandt waren, müssen plötzlich mitgedacht werden. Eine vergleichbare Situation?
Aus psychologischer Sicht ja. Auch hier wird es vermutlich erst einmal ein Gerangel um die Positionierungen geben. Es muss also überlegt werden: Was kann der Mitarbeiter, was braucht er, welche Zuständigkeiten kann man ihm übertragen? Der Chef wird hier gefordert, sich einzufühlen: Was ist das Wichtigste an der Stelle, was sollte beibehalten werden? Welche zusätzlichen Aufgaben passen zum Mitarbeiter?

Welche Rolle spielt die Kommunikation?
Kommunikation ist das A und O. Wenn man weiß, wie man richtig kommuniziert, gilt: Es gibt immer unlösbare Dinge, aber es gibt kaum Dinge, mit denen man nicht umgehen könnte.

Am Anfang sind Patchwork-Familien oft zuversichtlich und das Zusammensein ist von Offenheit und Neugier geprägt. Mit dem Alltag wendet sich das Blatt. Unterscheiden Sie in Ihrer Arbeit mit Familien verschiedene Entwicklungsphasen?
Zu Beginn gibt es meistens eine Kennenlernphase, in der der neue Partner als Bereicherung wahrgenommen wird. Beispielsweise der Stiefvater, der Süßigkeiten kauft und mit zum Fußballspielen kommt. Die Situation wird dann eine andere, wenn „der Neue“ nach dem Abendessen nicht mehr geht. Plötzlich sitzt Mama mit ihm auf dem Sofa – der Platz des Kindes wird bedroht. Ab diesem Moment wird sich das Kind einiges einfallen lassen, um den Eindringling wieder loszuwerden. Dann beginnt eine weitere wichtige Phase mit dem Gerangel um die Rollenverteilung.

Wie kann man diese Phase entschärfen?
Der leibliche Elternteil muss sich deutlich positionieren: „Wir sind bisher super alleine klargekommen, aber jetzt kommt jemand hinzu, den ich auch gerne an meiner Seite haben möchte.“

Stichwort Schokocreme: Sollte man auch auf Kleinigkeiten ansprechen oder über gewisse Eigenheiten großzügig hinwegsehen?
Das ergibt sich von alleine. Falls es dabei bleibt und man erst frisch zusammen ist, kann man Kleinigkeiten weglachen. Allerdings: Meis­tens kommen da noch zwei, drei oder auch 27 andere Dinge hinzu. Dann führen tatsächlich Banalitäten wie „Müll raustragen“ oder die Tischmanieren der Kinder zur Eskalation. Die Alltäglichkeiten stehen schließlich für etwas. An dem fremden Haar in der Dusche merkt man, was es heißt, jemand Neues im Haus zu haben. Daraus ergibt sich eine Diskussion über Grenzen.

Dass vermeintliche Bagatellen zu Konflikten führen, kommt auch im Unternehmen vor. Welchen Tipp würden Sie für eine funktionierende Kommunikation – sowohl in der Familie als auch im Büro – geben?
Miteinander reden. Aber eben nicht über die Banalitäten an sich, sondern tatsächlich über das, was dahintersteckt. Manchmal ist es schon viel wert, wenn man das „Eigentliche“ erkennt.

Beim Prinzip Patchwork treffen die verschiedenen Regeln und Grundsätze der Familien aufeinander.  Für Kinder erst einmal sehr ver­­wirrend …
Auch wer von Haus aus Fußballer ist, kann problemlos aufs Volleyballfeld wechseln und dort mit anderen Regeln spielen – sofern er sie beherrscht. Kinder können das auch, wenn sie von der „Mama-Familie“ in die „Papa-Familie“ wechseln. Kennen sie die jeweiligen Regeln, können sie sich fließend anpassen. Kennen sie diese allerdings nicht, da sie immer nur impliziert und nicht klar ausgesprochen werden, kommen sie in Teufels Küche.

Das heißt also reden, reden, reden …
Ja. Grundsätzlich empfehle ich den Eltern, Kommunikationsrituale aufzubauen. Das ist vor allem dann wichtig, wenn zwei Teilfamilien zusammenziehen. In regelmäßigen Familienkonferenzen setzen sich alle zusammen an einen Tisch und jeder erzählt, wie es ihm mit der Situation oder bestimmten Konflikten gerade geht. Was er gut findet, wovor er Angst hat, in welchen Punkten er sich geschnitten fühlt, was ihn frus­triert. Ganz wichtig: Das Gesagte sollte von den anderen zunächst unkommentiert bleiben. Es geht nicht darum, sofort nach Lösungen zu suchen, sondern darum, zu wissen, was der andere empfindet.

Wie oft sollten solche Konferenzen stattfinden?
Das kommt ganz darauf an, wie häufig die Teilfamilien miteinander zu tun haben. Wenn sie zusammen wohnen, entsprechend häufiger, als wenn sie sich nur hin und wieder am Wochenende sehen.

Ist eine grundsätzliche Skepsis der Kinder gegenüber der neuen Situation normal?
Wenn das Kind eine gute Bindung zum Elternteil hat und sich seiner selbst sicher ist, ist es meist auch weniger skeptisch. Deshalb muss es sich sicher sein können, seinen Platz zu behalten. Hat das Kind das Gefühl „wenn der andere kommt, muss ich gehen“, wird es sehr viel misstrauischer sein.

Was sind denn typische Konfliktthemen für Kinder, wenn sie mit der Stieffamilie konfrontiert werden?
Meistens kommt die Angst auf, dass neue Partner die Mutter beziehungsweise den Vater „wegnehmen“. Im Hinblick auf Stiefgeschwister kann es um alles Mögliche gehen: Wer bekommt welches Zimmer? Wer hat was zu sagen? Schließlich verändert sich die Dynamik, Geschwisterpositionen werden neu formiert. Privilegien und Gewohnheitsrechte werden aufgegeben, Verantwortlichkeiten neu verteilt. Der, der vorher der Jüngste war, gehört plötzlich zu den Älteren et cetera. Solche Probleme kann man nicht im eigentlichen Sinne, etwa durch bestimmte Regeln, „lösen“, aber es hilft, zu wissen, wie der andere sie erlebt. Die Kinder sollten sich „zurechtrangeln“ dürfen.

Darf auch im Unternehmen gerangelt werden?
Natürlich. Anfangs bestehen oft Unsicherheiten, welcher Mitarbeiter welche Kompetenzen hat. Auch hier kommt es zu Reibereien, bis jeder seine Zuständigkeiten und Grenzen abgesteckt hat.

Für Patchwork-Eltern ist es keine leichte Situation, Konflikte mit ansehen zu müssen. Worauf sollten sie mit Blick auf die Stiefgeschwis­ter besonders achten?
Die Eltern müssen im Auge behalten, dass die Kinder ihre unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten mitbringen. Ich habe einmal eine Familie beraten, in der beide Partner jeweils einen achtjährigen Sohn hatten. Während der eine noch sehr kindlich war, tendierte der andere schon in Richtung Teenie. Als der „Coole“ sich zu Weihnachten ein Handy wünschte und der andere sich dem Wunsch anschloss, waren die Eltern ratlos. Wie viel Gleichbehandlung muss sein? Was bedeutet „Gerechtigkeit“ in Familien? Es geht eher darum: Wie werde ich jedem Kind gerecht?

Kommen wir zu den positiven Seiten des Patchwork-Lebens. Inwiefern können Stiefgeschwister denn voneinander profitieren?
Sie bekommen intuitiv ein Gefühl für ihre eigenen Bedürfnisse und für die des anderen. Daher rate ich Eltern auch dazu, den Kindern den Freiraum zu lassen, ihre Konflikte miteinander selbstständig zu lösen. Sie sollten streiten dürfen. Denn der „Kinderkram“ hat durchaus einen Sinn für die Entwicklung der Beziehung. Sobald die Eltern sich einmischen, wird es komplizierter.

Gibt es bestimmte Kompetenzen, die insbesondere Kinder entwickeln, die in Patchwork-Familien aufwachsen?
Ja, davon bin ich überzeugt. Die Patchwork-Familie transportiert die Schlüsselqualifikationen, die wir aus der Wirtschaft kennen: Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, eine schnelle Auffassungsgabe. Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, entwickeln zwangsläufig Strategien, um mit dem „Hin und Her“ umzugehen. Damit steigern sie ihre Sozialkompetenz.

In der Firma werden Prozesse oft sehr kurzfristig in Gang gebracht. Was raten Sie Familien: das Zusammenleben langsam aufzubauen mit langen Phasen der Gewöhnung oder Veränderungen „kurz und schmerzlos“ herbeizuführen?
Oftmals hat man nicht die Wahl einer optimalen Gestaltung. Allein aus finanziellen Gründen ist das Zusammenziehen daher häufig eine „Hauruck-Aktion“. Wichtig ist dann, dass die Eltern sofort die Karten auf den Tisch legen und Verantwortung übernehmen. Sie sollten in der Familienkonferenz ihren Entschluss klar kommunizieren. Die Kinder haben da keinerlei Entscheidungsbefugnis. Eltern müssen sich darauf einstellen, dass diese meistens zuerst mit Ablehnung reagieren. Je nachdem wo die Familie hinzieht, lassen sie ihre Freunde hinter sich und müssen sich völlig umstellen. Trauer und Wut brauchen Platz und wollen behandelt werden. An dieser Stelle holen sich manche Eltern dann professionelle Hilfe.

Übertragen auf das Unternehmen ist es der Chef, der mit den Sorgen konfrontiert wird.
Genau. Auch er sollte zuhören und sich mit den Verunsicherungen, aber auch den Wünschen seiner Mitarbeiter auseinandersetzen. Wie in der Familie werden die Arbeitnehmer bei einer Zusammenlegung von Abteilungen oder Aufgabenbereichen vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Entscheidung sollte auch im Sinne der Entwicklung der Mitarbeiter sein. Der Chef muss klar herausstellen, inwiefern sie von der neuen Situation langfristig profitieren. Und auch, welche Mitbestimmungsrechte sie haben.

Er setzt also einen Rahmen, innerhalb dessen die Mitarbeiter sich an der Gestaltung beteiligen?
Ja. Aber schon bevor er den Rahmen setzt, sollte er ihre Stimmen innerhalb von Kommunikationsritualen einfangen und sich daran orientieren. Konferenzen, auch schon im Vorhinein, bieten dafür eine gute Möglichkeit.

Um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken, setzen viele Eltern auf gemeinsame Spiele und Ausflüge. Auch in Unternehmen finden diverse Teambuilding-Maßnahmen immer mehr Anklang. Der richtige Weg?
Es kommt darauf an, was man will. Aber natürlich können solche Maßnahmen sehr hilfreich sein. Gemeinsames positives Erleben – ohne Zwang – schweißt Familien beziehungsweise Kollegien zusammen. Bei Gemeinschaftsprozessen lernt man sich kennen, einander zu vertrauen, zu nutzen und zu respektieren. Man muss Verantwortung übernehmen, eigene Grenzen eingestehen und die Stärken der anderen mit seinen zusammenbringen. Jedes Spiel und jeder Konflikt bietet enorme Gelegenheiten, sich näher kennen und schätzen zu lernen.

Sowohl in der Firma als auch in der Familie ist der Erwartungsdruck, dass das Miteinander funktioniert, oft hoch. Ist das ein Grund, warum das Projekt Patchwork in mehr als der Hälfte der Fälle scheitert?
Erwartungsdruck impliziert, dass es im Vorhinein ein bestimmtes Bild gibt, wie das Miteinander auszusehen hat. Schlimmstenfalls hat dieses Bild wenig mit der Realität zu tun. Genau hier liegt in einem Fusionsprozess der Ansatzpunkt: Die bis dahin unbewussten Bilder sollten bei allen Beteiligten bewusst gemacht und kommuniziert werden. Der eine ist Pragmatiker, der andere hat ein stärker gefühlsbetontes Familienbild. Hier muss man schauen, wie man unterschiedliche Kulturen zusammenbringt.

Und was passiert, wenn zu den Stiefgeschwistern noch gemeinsame Kinder mit dem neuen Partner hinzukommen?
Meistens bringt das Ruhe ins Familienleben. Ein gemeinsames Kind ist schließlich ein Bindeglied: Plötzlich haben die Stiefgeschwis­ter tatsächlich verwandtschaftlich etwas miteinander zu tun. Die Rollenverteilung wird gestärkt, wenn es statt „mein“ und „dein“ auch ein „unser“ gibt – für gemeinsame Projekte der Unternehmensabteilungen gilt das übrigens auch.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe PR und die "bösen" Stiefgeschwister. Das Heft können Sie hier bestellen.

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