Duz and Don‘ts

sprecherspitze

Liebe Lisa, lieber Kay,

wir kennen uns nicht, sind uns noch nie begegnet, aber wir müssen reden. Uns anreden. Ihr habt mir gemailt. Vielleicht waren es auch Eure Kollegen von der PR-Agentur XY, Marie-Sophie und Sören. Ich habe das nicht mehr so genau in Erinnerung. Worum es ging, weiß ich, ehrlich gesagt, ebenfalls nicht mehr. Doch alles schien so vertraut.

„Lieber Jens“, habt Ihr vermutlich geschrieben und das offensichtlich sagenhaft innovative Spray eines irrsinnig spannenden Kunden angepriesen: „Sommer, Sonne, Sonnenbrand – wer kennt das nicht?“ (Ich dachte: Ich! Weil ich mich stets sorgfältig eincreme.) Oder Eure E-Mail begann so: „Hallo Jens, wenn es am Wochenende irgendwo richtig abgeht in der Stadt, dann auf der YZ-Messe. Es winken tolle Preise.“ (Ich fragte mich: Winkt Ihr zurück?) Oder auch: „Einen schönen guten Morgen, Jens, was denkst Du, macht der schnellste Mann der Welt, Usain Bolt, in seiner Freizeit wohl am liebsten?“ (Ich vermutete nicht, in einem deutschen Sportkaufhaus Platten auflegen, wie Ihr es im Laufe der Mail suggeriert.)

Lisa, Kay, Marie-Sophie, Sören, wisst Ihr, was das Apothekenmagazin „Senioren Ratgeber“ in einer Umfrage herausgefunden hat? 38,7 Prozent der Bundesbürger fühlen sich ein wenig pikiert oder beleidigt, wenn sie jemand beim ersten Kennenlernen unaufgefordert duzt.
Klingt ein bisschen spießig, ich weiß. Glücklicherweise bin ich weder Senior, noch gehöre ich zu den 38,7 Prozent. Schmunzeln muss ich über Eure hochagentourige Vertraulichkeit hingegen schon. Als wären Ihr und ich unausweichlich befreundete Komplizen, wenn es um die Verkündung eines Segel-Sponsorings durch eine Schnapsbrennerfirma aus den schottischen Highlands geht oder um die Verbreitung der beispiellosen Botschaft, Stützstrümpfe eines oberfränkischen Orthopädie-Fachhändlers würden das Fliegen quasi revolutionieren („Hättest Du das gedacht?“).

Wisst Ihr, wenn ich E-Mails von Euch erhalte, kommt mir oft dieser alte Witz in den Sinn: Zur Strafe muss Fritzchen hundertmal „Ich darf den Lehrer nicht duzen“ an die Tafel schreiben. Als der Lehrer nach einer Stunde in den Klassenraum zurückkehrt, fragt er erstaunt: „Du hast den Satz ja sogar zweihundertmal geschrieben. Warum?“ Darauf Fritzchen: „Ich wollte dir eine Freude machen.“

Lisa, Kay, Marie-Sophie, Sören, ich habe am Duzen an sich überhaupt nichts auszusetzen. Wirklich. In meiner Firma tun es sogar fast alle untereinander – weil wir uns kennen, uns täglich begegnen, Zeit miteinander verbringen. Euch kenne ich leider nicht. Aber ich möchte Euch zum Abschluss ein Angebot machen: You can say you to me. Okay?

Ganz, ganz liebe Grüße, einen sonnigen Tag und Danke für das tolle Gespräch,

Euer Ihr Jens

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe TEMPO. Das Heft können Sie hier bestellen.

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