„Der Weg in die Krise ist die Banalität des Blöden“

Herr Dombrowsky, was fasziniert Sie an Katastrophen?

Wolf-Rüdiger Dombrowsky: Etwas, das niemand erwartet, wenn er über Katastrophen nachdenkt. Katastrophen haben eine ungeheure Vitalität. Im Moment der Todesgefahr treten der Wert und die Schönheit des Lebens unverstellt zu Tage. Viele Menschen, die eine Katastrophe erlebt haben, sagen im Anschluss, dass sie nun wüssten, was das Leben wert sei. Das finde ich überwältigend.

Bitte bewerten Sie die drei folgenden PR-Statements aus Krisensituationen: „Dazu sagen wir nichts./Kein Kommentar.“

Angsthasen. Befreiender für alle Beteiligten wäre es zu sagen: „Ja, hier gibt es ein Problem und wir arbeiten daran.“ Dann müsste man auch nicht versuchen, Anfragen abzukanzeln.

„Einzelheiten kann ich Ihnen noch nicht nennen.“

Diese Aussage lieben vor allem Politiker. So unbefriedigend die Aussage für Journalisten ist, hat sie  trotzdem eine Berechtigung.  Direkt nach oder zu Beginn einer Katastrophe herrscht Chaos. Es dauert tatsächlich, bis man ein vollständiges Lagebild hat und Einzelheiten nennen kann.  Trotzdem sind die meisten Menschen solcher gestanzten Ausdrücke überdrüssig.

„Das werden unsere Anwälte klären.“

Die Wahrheit dieses Spruchs ist, dass jedes Scheitern auch Schadensansprüche nach sich zieht. Der Satz wirkt jedoch arrogant, weil er jede Empathie, jedes Mitgefühl abwehrt.

Was wäre eine Botschaft, die Kommunikationsabteilung oder Geschäftsführer intern/extern abgeben sollte, wenn die eigene Organisation betroffen ist?

Intern empfehle ich allen Führungskräften einen Satz vom „Alten Fritz“: Kümmere dich nicht um den Tod, reite! Will heißen, sei intern mutig und stelle dich den Fehlern. Extern sollte man Präsenz, Aktivität und Empathie zeigen: „Wir arbeiten am Problem, alle Mitarbeiter sind vor Ort und wir kümmern uns um die Menschen, die Schäden und Leid erfahren haben.“

Zypern, Euro, Abstieg aus der Fußball-Bundesliga – die Begriffe „Krise“ und „Katastrophe“ werden umgangssprachlich und in den Medien fast inflationär gebraucht. Stört Sie das?

Als Wissenschaftler muss mich das stören. Die Begriffe „Krise“ und  „Katastrophe“ sind zu einer metaphorischen Worthülse geworden. Wissenschaftlich sind sie daher kaum noch handhabbar. Ich schlage mittlerweile  eine Skalierung vor, ähnlich der  Beaufort- oder Richter-Skala, um Schadensgrößen anzuzeigen.  Damit könnte man die Schwierigkeiten zwischen wissenschaftlicher und umgangssprachlicher Krisen- oder Katastrophendefinition umgehen.
 
Kino und Fernsehen produzieren regelmäßig Katastrophenfilme wie „Die Sturmflut“ oder „Die Wolke“. Schauen Sie sich solche Filme an?

Nein, solche Filme schaue ich mir nicht mehr an. Es gibt allerdings auch nur wenig gute Katastrophenfilme. Die Bilder folgen einer anderen Ästhetik als die Realität. Viel mehr ärgert mich jedoch, dass die Zuschauer durch die dramaturgische Überzeichnung mit falschen Verhaltensmodellen versorgt werden.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel die Darstellung der Frauen. In den meisten Filmen werden diese in der Katastrophe zu hysterischen Weibern. Sie brechen in Tränen aus und kreischen oder sitzen apathisch in der Ecke. In der Realität ist das Gegenteil der Fall. Da sind die Frauen vielmehr die Bewahrerinnen des sozialen Zusammenhalts und behalten eher den Überblick als Männer.

Welchen Film können Sie denn empfehlen?

Mein Lieblingsfilm ist „Alive“ von 1993. Er basiert auf dem Buch „Alive: The Story of the Andes Survivors“ von Piers Paul Read und schildert den Überlebenskampf einer Rugby-Mannschaft aus Uruguay, die auf dem Weg zu einem Spiel in Chile über den Anden mit einem Militärflugzeug abstürzt. Die Überlebenden verbringen 72 Tage im Eis. Um nicht zu verhungern, entscheiden sie schließlich, die Überreste der Toten zu essen. Dieser Film geht unter die Haut. Er zeigt die Problematik von Leben, Tod und äußerster Bedrohtheit, ohne die klischeehaft dummen Übertreibungen des Genres zu benutzen.

Wie kommt es zu einer Krise?

Ein interessantes Forschungsergebnis der internationalen Katastrophenforschung ist, dass es den EINEN Auslöser nicht gibt. Keine Katastrophe taucht aus dem Nichts auf. Vielmehr ist der Weg in die Krise  die Banalität des Blöden: Lauter kleine Fehler addieren sich.

Das heißt?

Es sind immer kleinere Abweichungen von der Zielvorstellung, die nicht rechtzeitig beachtet oder korrigiert werden. Das kann beispielsweise eine Spannungsschwankung sein; die Temperatur in einem Chemie-Reaktor, die nicht im Optimalbereich liegt; oder eine Produktionsstraße, bei der die Mechanik heiß läuft. Letztendlich alles Kleinigkeiten, die korrigiert werden könnten, aber die Korrektur erfolgt aus irgendwelchen Gründen nicht. Die Abweichungen werden größer und werden trotzdem nicht korrigiert – dieser Ablauf wiederholt sich schließlich bis auch ein beherztes Eingreifen eine Krise/Katastrophe nicht mehr verhindern kann.
 
Lassen sich Krisen oder Katastrophen verhindern?

Vom Flugzeugabsturz bis zu Fukushima – es gibt immer ein Fenster der Korrigierbarkeit. Es fragt sich nur, ob Menschen so beherzt, kooperativ und kreativ sind, um diese Fenster zu nutzen oder  sie zuschlagen, weil die Beteiligten wie Deppen Autoritätsdinge ausfechten oder sich in Hierarchie-Gespinsten und Zuständigkeiten verstricken.

Wie kann sich ein Unternehmen/eine Organisation auf Skandale/Krisen/Katastrophen vorbereiten?

Es gibt zwei erstaunlich einfache Rezepte. 1. Wecke den inneren Schweinehund: Jeder Mensch hat so etwas wie eine eingebaute Nachlässigkeit. Das heißt, jeder Einzelne sollte sich mit einer Abweichung, die er entdeckt, auseinandersetzen. Wird er von jemand anderem daran gehindert oder wird das von anderen nicht weiterverfolgt, muss er dagegen angehen. Noch simpler ist Schritt 2: Jeder kleine Fehler muss jedem zur Verfügung gestellt und öffentlich diskutiert werden. Das geschieht beispielsweise bereits in der internationalen Luftfahrtbranche. Durch diese Fehler-Kultur entstehen lernende Organisationen. In lernenden Organisationen ist es nicht schlimm, Fehler zu machen. Schlimm ist es, Fehler nicht zu berichten und sie auch nicht zur Vermeidung freizugeben. Viele Unternehmen werden deswegen so hart von Krisen getroffen, weil sie nicht in der Lage sind, eine Vermeidungskultur zu entwickeln.

Gibt es ein Unternehmen, das eine solche Vermeidungskultur bereits besitzt?

Mein Lieblingsbeispiel ist IBM. Dort stellen Mitarbeiter Problemlösungen in eine interne Datenbank. Die Kollegen können die Lösungen dann nach der Nützlichkeit bewerten und strukturieren dadurch die Datenbank um. Gut bewertete Einträge rücken in den Vordergrund. Gleichzeitig dient diese Datenbank als Grundlage für Beförderungen. Es ist eine lernende Organisation entstanden, weil es sich für die Mitarbeiter lohnt, ihr Wissen weiterzugeben.

Was ist elementar beim Katastrophenmanagement in Unternehmen?

Führung ist das A und O. Denn Katastrophen sind Chaos-Phasen. Organisationen müssen sich schnellstmöglich sortieren können, um wieder handlungsfähig zu werden. Das gelingt jedoch nur, wenn Manager beherzt die Führung übernehmen, sich schnell ein Lagebild verschaffen und entsprechende Maßnahmen-Pakete schnüren, die es abzuarbeiten gilt.

Das heißt, mit einem definierten Krisenstab und vorbereiteten To-do-Listen sind Unternehmen gut vorbereitet?

Wer sich in dieser Weise vorbereitet, ist im Krisenmanagement tatsächlich besser. Allerdings zeigt die Praxis, dass To-do-Listen und Checklisten im Ereignisfall nicht helfen. Wenn Mitarbeiter erst auf Checklisten schauen müssen, werden sie unsicher. Es macht sie für die Organisation ineffektiv. Denn Menschen sind in Krisen nicht souverän. Sie müssen es erst wieder werden.

Was würden Sie Organisationen stattdessen raten?

Organisationen sollten eine Notfall-Routine implementieren, die dem Alltag sehr ähnlich ist. Das gibt den Mitarbeitern Handlungssicherheit. Je besser die Notfall-Routine und ihre Abweichungen vom Alltag geübt sind, desto schneller sind sie wieder handlungsfähig.

Zur Person: Wolf-Rüdiger Dombrowsky ist Inhaber des Lehrstuhls für Katastrophenmanagement an der Steinbeis Hochschule Berlin und ist Mitglied des Krisenstabs der Strahlenschutzkommission beim Bundesministerium für Umwelt und Naturschutz.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Krisenkommunikation. Das Heft können Sie hier bestellen.

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