Der Herr der Fliegen

Du denkst: Sind die komplett verrückt?

Was hat die bloß so sehr entzückt?

Wer hat sich das hier ausgedacht?

Ich sage Dir, weshalb, warum

Die Fliege summt dabei herum

Die Fliege summt dabei herum.

Denn sie ist ’ne Kreatur wie ich und Du

Ist plötzlich hier ´ne Menge wert

Lebt so gern wie Du und ich

An jedem Sonnenstrahl erfreut sie sich 

(*Songtext „Muss nur noch kurz die Fliege retten“ des Initiativkreises Deppendorf)

 

Es begann mit der Werbeaktion für ein neues Produkt. Dann folgten ein Kunstprojekt, das sich verselbständigte und ein Umweltsiegel samt Geschäftsmodell. Endet womöglich alles in Hollywood? Die Geschichte von Hans-Dietrich Reckhaus, der auszog, Insekten zu vernichten – und lernte, sie zu lieben.

Hans-Dietrich Reckhaus (c) Hartmut Nägele

Steht am Ende eines jeden Lebens eine große Null? „Das wäre schön, ist aber Theorie“, findet Reckhaus. „Dabei sollte man im Leben immer mehr geben als nehmen.“ Im Alltag produziert er mit seinem mittelständischen Unternehmen in Bielefeld Insektenvertilgungsmittel: Darunter Mottenpapier, Ameisenspray, Silberfischköder, Wespenschaum – und Fliegenfallen aller Art. Seine Unternehmergeschichte hätte immer so weitergehen können. Doch wie in einem guten Film hat diese zwei Twists: Augenblicke, die alles ändern.

Als er für die Vermarktung einer neuartigen Fliegenfalle die bekannten Schweizer Künstlerzwillinge Frank und Patrik Riklin vom „Atelier für Sonderaufgaben“ in St. Gallen anfragte, lehnten die prompt ab: Reckhaus solle gefälligst keine Insekten töten, sondern schützen.

 

Das Umdenken

Twist Nummer eins: Statt sich genervt neue Designer zu suchen, kam der Sammler zeitgenössischer Kunst ins Grübeln: „Sie hatten Recht.“ Doch wie überwand der Insektenvernichter diese innere Diskrepanz? „Indem ich ein Geschäftsmodell daraus machte.“

Die Riklin-Brüder und Reckhaus bei der Aktion „Fliegen retten in Deppendorf“ (c) Reimar Ott, Reckhaus

Reckhaus bat die Riklin-Brüder, in deren Augen Kunst im Idealfall nicht als solche zu erkennen ist und zu einem Teil der Gesellschaft wird, erneut um Hilfe. Gemeinsam wollten sie ein Kunstprojekt erschaffen, bei dem es um ein neues Verständnis und Bewusstsein für Insekten geht, das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Insekt und den daraus entstehenden Diskurs darüber. Das Ergebnis war die Aktion „Fliegen retten in Deppendorf“: Die Bewohner des ländlichen Bielefelder Ortsteils sollten rund um ein Volksfest Fliegen sammeln, um ihren ökologischen Wert bestimmen zu können.

Fliegen retten in Deppendorf

Dabei sollte die Aktion urspünglich woanders stattfinden: Gemeinsam mit den Riklin-Brüdern suchte Reckhaus ein Dorf mit 1.000 Einwohnern rund um Bielefeld und eigener Webseite. Acht Orte kamen in die Endauswahl, Deppendorf war nicht darunter. „Der Name war so schräg, das hätte niemand ernst genommen“, sagt der Insektenvernichter. Als die anderen Orte von der Liste mit der Idee nichts anfangen konnten, sprachen sie doch in Deppendorf vor – und wurden überrollt von der Begeisterung der Bewohner: Die örtliche Feuerwehr grillte, der Heimatverein verantwortete das Catering. Die Deppendorfer sammelten tagelang Fliegen, dichteten ein Fliegenlied (s.o.), schworen den Fliegen-Eid, brannten Fliegen-Schnaps…

Die Gewinner der Insektensammlung brachte ein Hubschrauber zum Flughafen, von dort ging es zum Wellness-Wochenende. Immer dabei in einer Glasbox: „Ehrenfliege“ Erika. Auch sie bekam das Paradies auf Erden: Zuckerlösung, Wasser, Obst, Gemüse und für den Flug sogar eine eigene Bordkarte. „Wir haben die Aktion „Fliegen retten in Deppendorf“ neun Monate lang geplant“, sagt der Biozidproduzent. „Dabei hatten wir keine Ahnung, ob es funktioniert oder wir allein auf der Wiese stehen.“

Die Bordkarte von „Ehrenfliege Erika“ (c) Reckhaus

Reckhaus sagt von sich, er sei konservativ. Prompt ließ er Fliege Erika nach ihrem Tod konservieren. In einer Vitrine ziert sie die Firmenzentrale bis heute. Als Erika erst nach rekordverdächtigen fünf Wochen starb, verkündete Reckhaus die Nachricht seinem Team ganz in schwarz gekleidet, ein eigener Blog berichtete über jede Neuigkeit. Das PR-Ergebnis: Mehr als hundert Presseartikel.

Biozide statt BWL

Nach dem BWL-Studium in der Schweiz wäre Reckhaus gerne in die Forschung gegangen. Doch für seinen Vater, einen Patriarchen alter Schule, stand nie außer Frage, dass der älteste Sohn das mittelständische Familienunternehmen übernimmt. Zähneknirschend fügte sich der Junior. Heute führt er das Unternehmen gemeinsam mit seinem Bruder, „der war nur zwei Wochen lang skeptisch, heute arbeiten wir Seite an Seite“, so Reckhaus.

Doch Reckhaus wollte mehr: Nach der Kunstaktion wollte er die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur auch seriös vermarkten. Und machte aus der Diskrepanz zwischen Insektenvertilgung und Naturschutz ein Geschäftsmodell. Twist Nummer zwei.

Reckhaus: „Insekten sind für das Ökosystem der Erde von enormer Bedeutung. In privaten Haushalten werden sie jedoch als Schädlinge verstanden.“ Er ließ einen renommierten Biologen den ökologischen Wert einer Fliege errechnen und wie viele Insekten seine Produkte im Jahr töten. Und begann, Ausgleichsflächen zu schaffen. Reckhaus: „Die erste entstand auf dem Dach unseres Verwaltungsgebäudes, eine zweite auf dem Gelände ist geplant.

Ausgleichsfläche auf dem Firmendach (c) Reimar Ott, Reckhaus

Das eigene Siegel

Am Ende führte er sein eigenes Siegel ein: Insect Respect. Das „weltweit erste Gütezeichen für bekämpfungsneutrale Insektenvertilgungsmittel sieht in Insekten das, was sie primär sind: Nützlinge von unschätzbarem Wert.“ Hersteller von Bioziden sollen sich zertifizieren lassen und das Siegel gegen Geld wie ein Gütezeichen führen können. Dahinter steht ein wissenschaftliches Konzept aus ökologischen, ökonomischen und sozialen Faktoren. Sein Kampagnenkern ist die Nachhaltigkeit. Reckhaus: „Fehlt einem Siegelbewerber der Platz für eine eigene Wiese, bieten sich auch Orte mit Gemeinschaftsaspekt an wie im Sozialen Wohnungsbau, rund um Schulen, Wohnheime oder Begegnungsstätten.“

Einen Pressebeauftragten hat die Firma nicht, „den wollen wir uns mit gerade mal 50 Mitarbeitern nicht erlauben“. Reckhaus spricht für sich. Und gab erst vor kurzem sein erstes Interview. Dass er schüchtern sei, ist schwer zu glauben. Heute hält er Vorträge und staunt selbst über den Erfolg der Kampagne.

Warten auf den Return on Investment

Der Vater dagegen, der Grand Seigneur, hält seinen Sohn bis heute für verrückt. Er respektiert zwar dessen wissenschaftliche Arbeit, aber wartet auf den Return on Investment. Denn am Ende hat Reckhaus eine halbe Million Euro investiert: Das Kunstprojekt „Fliegen retten in Deppendorf“ schlug mit einem Fünftel zu Buche für die Künstler-Honorare, Reisekosten, Video-Begleitung, Festzeltmiete.

Den Rest investierte der Geschäftsmann in das Siegel „Insect Respect“: Für Forschung, den sechs Monate langen Aufbau eines wissenschaftlichen Modells, drei Internetseiten, den Aufbau einer zusätzlichen Marke, Rechte und weltweiten Markenschutz. „Viel Geld“, findet Reckhaus, „doch der Gegenwert der PR übersteigt das um ein Vielfaches.“

Und jetzt?

Inzwischen ist ein Buch fertig und gleich zwei Filmprojekte rund um die Fliegenfänger sind projektiert: die Riklin-Brüder arbeiten an einer Doku und ein deutscher Regisseur plant eine Kinoversion, sucht noch Investoren. Erika goes Oscar?

„Wir revolutionieren die Branche“, sagt der studierte Betriebswirt. Und die reagiert – gar nicht. Schweigend boykottiert sie das Siegel, dabei „können andere von uns lernen“, findet Reckhaus, der gelassen annimmt, dass ihn „die Konkurrenz auch für verrückt hält. Aber wenn ausgerechnet wir Verantwortung übernehmen und etwas für die Umwelt tun können, kann das jeder.“

Genial oder gaga? Auf jeden Fall ein PR-Erfolg. Und was rettet Reckhaus als Nächstes? „Noch mehr Insekten. Damit die Bilanz am Ende mehr ergibt als eine Null.“

Sehen Sie hier den ersten Trailer zu Insect Respect – The Movie:

 

Experten sagen: Ohne Insekten wäre die Menschheit in zehn Jahren ausgelöscht. Hier geht’s zum Animationsfilm „Kleine Riesen“. Oder wussten Sie, wofür man die Flügler alles braucht? 

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