Das mobile Lagerfeuer des Erzählens

Ich bin, was ich erzähle, flüstern Kampagnen, Werbespots und Advertorials ihren Konsumenten zu. Die Imperative „Glaub mir!“ und „Kauf mich!“ verstecken sich heutzutage hinter raffinierten Markengeschichten. So stieg sie empor aus überladenen Versprechen und Lobpreisungen: die Werbung als bezirzende Erzählung. Die poetische Kraft des Storytellings verleiht Unternehmen und Produkten heutzutage ihre Individualität. Doch das funktioniert nur, wenn Werbung sich nicht mehr als solche zu erkennen gibt. Denn die Märkte sind gesättigt, die Köpfe voll, die Aufmerksamkeit atemlos. Geschichten jedoch sind vertrauenswürdig, lassen sich weitererzählen. Und dieses Teilen ist ­essenziell im digitalen Miteinander.

Oh verweile doch, du bist so schön …

Die User sehnen sich nach dem „Erlebnis geteilter Gegenwart“. Diese Gegenwartsversessenheit, das Dürsten nach Echtzeitkommunikation ist laut Michael Esders die Sehnsucht, den Augenblick seiner Flüchtigkeit zu berauben, ihn zu medialisieren und damit festzuhalten: „Das Jetzt wird zum Vorwand, zum Alibi, zur Lizenz, jede Lebensäußerung, und sei sie noch so banal, mitzuteilen.“ In diesen Strom möchten die Markengeschichten eintauchen. Sie wollen die Lebensgeschichten der User „kolonialisieren und sich als ihr Bestandteil weiter verbreiten“. Durch das Teilen im Internet werden all diese ­Geschichten entfesselt, das Erzählen wird verflüssigt.

Die fingierte Dramaturgie des Lebens

Die Geschichten dieses Liquid Storytelling sind schon lange gehandelte „Ware“, urteilt Esders. PR und Werbung haben sich die Poesie einverleibt – eine Beobachtung, die er bereits 2012 in „Die enteignete Poesie“ ausformulierte. Denn sie ist es, die die ästhetischen Koordinaten für die Markengeschichten vorgibt. Für die Stories wird die „narrative Universalformel“, die Heldengeschichte, vom Marketing zurate gezogen. Coca Cola, Red Bull und Heineken haben es vorgemacht und erzählen nach der Helden-Formel. Dem Held ereilt der Ruf des Abenteuers, er weigert sich, begegnet seinem Mentor, überschreitet die erste Schwelle, muss Bewährungsproben überstehen, dringt zur tiefsten Höhle vor, muss die Prüfung bewältigen, erhält eine Belohnung, macht sich auf den Rückweg. Das Ende der Reise ist seine Auferstehung, die Rückkehr mit dem „Elixier“.

Die DNA des Erzählens

Das Helden-Motiv wurde 1949 von Mythenforscher Joseph Campbell aufgeschlüsselt. Dieses Erzählmuster, „die DNA des Erzählens“, ist nun Quelle unzähliger Klone, unendlicher Geschichten. Sie gibt der inneren und äußeren Realität ihre Form und lässt sich auf Unternehmen, Marken und Personen applizieren, bietet sich besonders bei Veränderungsprozessen an. Dem Leben wird diese Dramaturgie übergestülpt, nach der es sich dann auch richtet. Das ist für Esders die „poetische Simulation einer bewohnbaren Welt“. Bewohnbar wird sie durch den Rahmen, der sie abgrenzt, den frame. Anfang und Schluss, die semantische Klammer, rahmen die Wirklichkeit ein und machen sie für Leser, Zuschauer und User „erträglich“ und somit konsumierbar. So kann die Meinungsbildung kanalisiert werden, sagt Esders. Die Anschläge von 2011 wurden beispielsweise unverzüglich von CNN mit „America under Attack“ und später „Amerikas New War“ gerahmt.

Auf den letzten Seiten zieht Esders Bilanz aus seinen Beobachtungen. Die Kraft der „ungebundenen Narration“ sei zwar eine Quelle der Inspiration und Fortführung – wie einst die Erzählungen der Prinzessin Scheherazade in Tausendundeine Nacht – doch sei sie unkontrollierbar, eben „flüssig“. Und darin liege auch die Chance auf Befreiung der Poesie und Literatur. Wir werden sehen!

All dies hätte Esders, der übrigens für das Volkswagen-Magazin „autogramm“ schreibt, natürlich auch einfacher formulieren können. Aber die anspruchsvolle Wortwahl seiner Abhandlung, sein philosophisch-entrückter Stil, der sich selbst ereifert … all das zeigt: Lesen kann auch immer eine Herausforderung an sich selbst sein.

 

Foto: Aisthesis Verlag

Michael Esders. Ware Geschichte – Die poetische Simulation einer bewohnbaren Welt. Aisthesis. 14,50  Euro.

Korrektur: In der Print- Ausgabe 07/2014 ist uns leider in dem Artikel “Das mobile Lagerfeuer des Erzählens”  ein Fehler unterlaufen. Michael Esders ist nicht Redakteur bei Audi, sondern bei Volkswagen. Den Fehler haben wir in dieser Online-Fassung korrigiert.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Kommunikations-Controlling, Evaluation und Eigen-PR. Das Heft können Sie hier bestellen.

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