Wie Organisationen an Krisen wachsen können

Interne Kommunikation

Als Lena Müller*, Leiterin interne Kommunikation bei einem mittelständischen Anlagenbauer, an einem Dienstagmorgen das Handy anmachte und die Schlagzeilen sah, war der Schaden bereits angerichtet: Mehrere Wirtschaftsmedien berichteten über bevorstehende Entlassungen bei Müllers Arbeitgeber. Irgendwo im Haus gab es ein Leak, über das Informationen nach außen gingen.

Im Büro war das Chaos spürbar: Auf den Fluren herrschte Unruhe, in Whatsapp-Gruppen machten Vermutungen und Gerüchte die Runde. Führungskräfte sahen sich mit Fragen konfrontiert, auf die sie keine Antwort geben konnten: „Stimmt das? Sind wir betroffen? Warum jetzt, uns ging es doch gut?“ Das Vertrauen der Mitarbeitenden drohte zu erodieren – noch bevor die Fakten auf dem Tisch lagen.

Vorkrisenphase: Kultur als Fundament

Krisen wirken meist wie plötzliche Schläge. Tatsächlich sind sie aber oft vorhersehbar und können vorbereitet werden. Das gilt nicht nur für das Krisenszenario an sich (in unserem Fall die Entlassungen), sondern auch für den kulturellen Boden, auf dem die Kommunikation aufsetzen kann.

In dieser frühen Phase liegt der größte Handlungsspielraum. Strukturen lassen sich schaffen, Szenarien durchspielen, Eskalationswege klären. Vertrauen, so noch nicht vorhanden, lässt sich aufbauen. Entscheidend ist am Ende die Kultur: Psychologische Sicherheit ist der eigentliche Krisenschutz. Nur wenn Mitarbeitende keine Angst haben, Risiken oder Fehler offen anzusprechen, werden potenzielle Krisen oft gar nicht groß oder bleiben zumindest intern beherrschbar. Im Fall von Lena Müller hätte der Informant sich vielleicht mit seiner Führungskraft besprochen, anstatt ein Gerücht an die Medien durchzustechen.


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Auch Übung gehört dazu. Szenario-Trainings, die Teams in Ausnahmesituationen versetzen, wirken wie Generalproben. Sie nehmen der Krise den Schockmoment, weil Menschen wissen: Wir haben Abläufe, eine Sprache, ein gemeinsames Muster. Wer so vorbereitet ist, bleibt ruhiger, wenn es ernst wird.

Besonders weitsichtige Organisationen stellen ihr Krisenteam nicht nur nach Funktionen zusammen, sondern auch nach Motivlagen. Mithilfe von Profilen wie dem Luxx/Reiss-Modell lassen sich Teams so divers aufstellen, dass sie menschlich ausgewogen agieren können: Strukturorientierte halten den Überblick, Einflussstarke treffen Entscheidungen, Sozialorientierte sorgen für Empathie, sicherheitsgetriebene Mitglieder mahnen Risiken an. Strukturen wie diese brauchen Zeit und Vorbereitung – aber sie lohnen sich.

Akute Krise: Orientierung und Haltung

Wenn die Krise eintritt, zählt jede Minute. Dann zeigt sich, wie viel Substanz die Vorbereitungen haben – und wie belastbar Kultur und Führung wirklich sind.

Das wichtigste Prinzip: intern vor extern. Mitarbeitende dürfen Neuigkeiten nicht zuerst aus den Medien erfahren. Ein solcher Vertrauensbruch ist kaum zu reparieren. Kommunikationshoheit heißt in diesem Moment nicht nur, die Fakten im Griff zu haben, sondern vor allem: die Menschen mitzunehmen.

In dieser Phase brechen Grundbedürfnisse auf, die im Alltag oft verborgen bleiben. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis, warum Krisen bei Menschen so tief wirken:

  • Sicherheit: Jede Unklarheit wird als existenziell bedrohlich empfunden, ein fehlendes Wort kann eine Katastrophe sein.
  • Zugehörigkeit: „Bin ich noch Teil dieses Ganzen?“ Wenn Zugehörigkeit entzogen wird, entstehen Gefühle wie Einsamkeit und Angst.
  • Autonomie: Wer sich nur als Spielball erlebt, verliert jede Motivation. Selbst kleine Mitgestaltungsmöglichkeiten machen einen Unterschied.
  • Fairness: Nichts zerstört Vertrauen so schnell wie der Eindruck, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.
  • Freude: Auch in schweren Zeiten suchen Menschen Momente der Leichtigkeit – ein gemeinsamer Lacher zu Themen fernab von der Krise kann mehr bewirken als zehn erklärende Charts.
  • Selbstverwirklichung: Der Wunsch nach Sinn bleibt bestehen. Gerade im Umbruch wollen Menschen wissen: „Wofür lohnt sich mein Einsatz?“

Widerstand ist kein Trotz, sondern ein Hilferuf. Hier kommt den Führungskräften eine Schlüsselfunktion zu. Sie sind die Stoßdämpfer der Organisation: Bei ihnen prallen die Fragen der Mitarbeitenden, die Ansprüche der Geschäftsführung und die eigene Unsicherheit aufeinander. Sie brauchen klare Talking Points, schnelle Informationswege – aber auch Coaching und Sparring, um die eigenen Emotionen zu regulieren. Sind sie stabil, können sie anderen Halt geben. Wichtig ist das „Go“ von oben: Nicht perfekte Antworten zählen, sondern ehrliche Haltung.

Manchmal reicht ein Satz, um Vertrauen zu halten: „Wir wissen noch nicht alles, aber wir halten euch auf dem Laufenden und melden uns, wenn wir mehr wissen.“ Denn jedes Informationsvakuum füllt sich zuverlässig – mit Gerüchten, Halbwahrheiten, Misstrauen und mit den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit.

Nachkrisenphase: Lernen und Wachsen

Jede Krise ebbt ab. Was bleibt, ist die Erfahrung – und die Frage, ob daraus gelernt wird. Gute Nachbereitung macht aus einem Schockmoment langfristig echte Resilienz. Wer offen reflektiert – auch über Fehler! –, der signalisiert: Wir wollen verstehen und besser werden.

Manche Unternehmen verdichten die wichtigsten Erkenntnisse in kompakten „Lessons Learned“-Formaten. Solche Rückblicke zeigen: Wir vertuschen nicht, wir lernen. Dabei geht es viel um Kultur. Wer offen zugibt, dass die interne Information zu langsam war, zeigt damit Haltung. Wer sichtbar macht, dass Führungskräfte stärker befähigt werden müssen, schafft Vertrauen.

Auch Storytelling entfaltet hier seine Wirkung. Geschichten darüber, wie Teams gemeinsam durch die schwierige Phase gekommen sind, wie einzelne Führungskräfte Haltung gezeigt und Mitarbeitende Verantwortung übernommen haben – sie wirken, denn sie machen aus Betroffenen Mitgestalter*innen und schaffen ein kollektives Narrativ.

Rituale helfen, dieses Lernen zu verankern: regelmäßige „Lessons Learned“-Meetings, offene Q&A-Sessions oder symbolische Gesten wie ein gemeinsamer Rückblick im Townhall-Format. So wird aus einer Episode ein Kapitel der gemeinsamen Geschichte.

Altlasten abbauen, Resilienz aufbauen

Ein weiterer, oft unterschätzter Punkt: Change Fatigue. Viele Organisationen tragen Altlasten früherer Veränderungen mit sich, die schlecht begleitet oder unvollständig umgesetzt wurden. Diese Hypothek färbt auf jede neue Krise ab. Ein „Ach, das ist doch schon so lange her“ ist dann trügerisch, denn erlebtes Misstrauen hat eine lange Halbwertzeit. Deshalb gilt: Alte Wunden müssen benannt und bearbeitet werden, bevor neues Vertrauen wachsen kann.

Krisen sind keine Betriebsstörungen, sondern Stressproben für Beziehungen. Sie zeigen, ob Kultur trägt, ob Führung Nähe schafft, ob Kommunikation Vertrauen ermöglicht. Sie legen die Grundbedürfnisse der Menschen offen – nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Autonomie, Fairness, Freude und Sinn. Wer diese Bedürfnisse ernst nimmt, wer Führungskräfte befähigt, wer psychologische Sicherheit schafft und Beteiligung ermöglicht, verwandelt den Ausnahmezustand in ein Lernfeld.

So entsteht Resilienz. Und genau hier liegt die eigentliche Chance: Eine Organisation, die ihre Menschen in der Krise nicht allein lässt, geht nicht geschwächt daraus hervor. Sie wächst an ihr.

Und bei unserem Anlagenbauer? In unserem eingangs erwähnten Beispiel erkannte Kommunikatorin Lena Müller früh, dass sie das Ruder übernehmen musste. Dass sie vorsorglich einen Krisenstab ins Leben gerufen hatte, kam ihr nun zugute. Q&A-Material für Führungskräfte ließ sich schnell erstellen, und eine digitale Townhall wurde aufgesetzt.

Der CEO übernahm persönlich die Erklärung der Hintergründe, bat um Entschuldigung für die entstandene Indiskretion und zeigte Empathie mit allen Beteiligten – sowohl denen, die von den Entlassungen betroffen sein würden, als auch denen, die durch den Schreck verunsichert waren. Er setzte damit das stärkste Signal in Krisen: „Wir sind im Austausch und reden, auch wenn es weh tut.“

Die Situation blieb ernst, aber die Organisation gewann die Kommunikationshoheit zurück. Und mehr noch: Sie nutzte die Krise, um Orientierung zu geben und Vertrauen zu stärken. Und sie lernte dazu – für hoffentlich nicht wiederkehrende Krisensituationen, aber auch für den ganz normalen kommunikativen Alltag.


* Der Name als auch das Fallbeispiel sind fiktiv.

Die Autorin spricht zu diesem Thema am 21. Oktober auf der Tagung Krisenkommunikation der Deutschen Presseakademie (depak).

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