Die Diskussion um den Termin für die vorgezogene Bundestagswahl verläuft inzwischen in unrühmlichen Bahnen. Maßgeblich verantwortlich dafür sind Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Vertrauensfrage bis in den Januar hinauszögern will, und die Bundeswahlleiterin. Mittlerweile sind die Argumente auf einem niedrigen Niveau angekommen. Beispiel: ein Tweet von Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt am Samstagabend: „Wie würde wohl die Umfrage ‚Wollen Sie künftig jedes vierte Jahr zu Weihnachten einen Bundestagswahlkampf haben?‘ ausfallen?“, schrieb er, womit er suggeriert, künftige Wahlen müssten immer um Weihnachten herum stattfinden. Dem ist nicht so. Auch ist nicht zu befürchten, dass künftig am 24. Dezember statt des Weihnachtsmanns ein Wahlkämpfer die Geschenke bringt.
Olaf Scholz und die SPD arbeiten auf einen Wahltermin zwischen Mitte März und Anfang April nächsten Jahres hin. CDU/CSU und die anderen Parteien im Bundestag tendieren dazu, früher wählen zu lassen. Sie fordern den Kanzler auf, zügig die Vertrauensfrage zu stellen, was den Wahltermin aufgrund gesetzlicher Fristen nach vorne ziehen würde. Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck äußert sich ebenfalls in diese Richtung. Der Bundeswirtschaftsminister sprach gegenüber „ntv“ davon, dass es keine „Hängepartie“ geben solle. Ihn stört, dass Scholz – ohne ihn namentlich zu nennen – den Wahltermin mit der Durchsetzung einiger Lieblingsprojekte verknüpft.
Zu Wort gemeldet hat sich die Bundeswahlleiterin Ruth Brand. Die Beamtin ist Präsidentin des Statistischen Bundesamtes. Bis Dezember 2022 leitete Brand im Bundesinnenministerium das Beschaffungsamt. Als Bundeswahlleiterin wurde sie von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ernannt. An der Bundeswahlleitung gibt es normalerweise kein größeres öffentliches Interesse. Ausnahme: Es treten Unregelmäßigkeiten wie 2021 bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin auf.
Die Bundeswahlleiterin
Ruth Brand hat es mit wenigen Äußerungen geschafft, Zweifel zu säen, dass eine vorgezogene Bundestagswahl reibungslos und damit rechtssicher ablaufen wird.
Dafür reichten ein O-Ton in der „Tagesschau“ und ein Brief, den sie an Bundeskanzler Scholz schrieb. Der landete bei einigen Medien. Brand listet in dem Schreiben mögliche Probleme auf, die bei einem engen Zeitplan aus ihrer Sicht auftreten könnten. Wer den Brief liest, hat nachher das ungute Gefühl, auch reguläre Bundestagswahlen sind auf derart tönernen Füßen gebaut, dass man sich wundern muss, wie diese jemals erfolgreich ablaufen konnten. Brand sorgt für Unsicherheit.
Skurril war ihr Kurzinterview in der „Tagesschau“. In der ARD-Sendung sagte sie, „und insbesondere ist eine große Herausforderung in der heutigen Zeit, wirklich das Papier zu beschaffen und die Druckaufträge durchzuführen“. Für Druckereien ist es tatsächlich schwieriger geworden, Papier zu besorgen. Die Kosten sind gestiegen. Dass der Zeitpunkt einer Wahl in Deutschland aufgrund eines möglichen Papiermangels nach hinten verschoben werden müsste und im Grundgesetz vorgegebene Fristen nicht eingehalten werden können, wäre ein desaströses Zeichen. In Frankreich und Großbritannien genügten drei beziehungsweise sechs Wochen zwischen Ankündigung und Wahl. Auch wenn die Wahlsysteme unterschiedlich sind: Die Warnung vor einer drohenden Papierknappheit bestärkt alle diejenigen, die beklagen, dass in Deutschland zu vieles nicht mehr funktioniere.
Inzwischen hat die Papierindustrie gegenüber dem ZDF bekräftigt, dass es keinen Papiermangel gibt. „Bei rechtzeitiger Bestellung können wir das benötigte Papier für eine vorgezogene Bundestagswahl liefern“, antwortete der Hauptgeschäftsführer Alexander von Reibnitz des entsprechenden Industrieverbands auf die Frage, ob die Industrie das notwendige Papier liefern könne. Eigentlich hätten Vorbereitungen wie die Beauftragung von Druckereien für die Bundestagswahl, die regulär im September 2025 angestanden hätte, doch sowieso bereits getroffen werden können. Mit einem Ende der Ampel-Koalition wurde seit Monaten gerechnet. Vorgezogene Wahlen waren ein realistisches Szenario.
„Unwägbare Risiken“
Schwerer als der „Tagesschau“-Ausschnitt wiegt der Brief, den die Bundeswahlleiterin am 8. November an Bundeskanzler Olaf Scholz schickte. Dieser ist mit „Herausforderungen und Risiken einer möglichen Neuwahl im Januar oder Februar 2025“ überschrieben. Das Dokument wirkt, wie vom Kanzleramt bestellt. Dass es Kontakt zwischen dem Büro der Bundeswahlleiterin und dem Kanzleramt vor dem Brief gab, hat ein Sprecher der Wahlleiterin inzwischen „Bild“ zufolge bestätigt. Jetzt gibt es Zweifel an der Unabhängigkeit der von einer SPD-Ministerin bestellten Bundeswahlleiterin. Dass es so weit gekommen ist, hat sie selbst zu verantworten.
Brand plädiert dafür, den im Grundgesetz vorgesehenen Zeitraum von 60 Tagen ab Auflösung des Bundestags voll ausschöpfen zu können. Aus ihrer Perspektive ist das verständlich. Umso mehr Zeit, desto weniger Unsicherheiten in der Planung. Nur: Wer hat gefordert, von den 60 Tagen abzuweichen? Die Frage ist eher, warum Scholz die Vertrauensfrage im Bundestag nicht früher stellt, womit der Wahltermin nach vorne rücken würde. 60 Tage blieben so oder so.
Ein Problem aus Sicht von Brand: Weihnachten und Silvester. „Unwägbare Risiken auf allen Ebenen“ könnten sich aufgrund der Weihnachtstage und der Zeit zwischen den Jahren ergeben, schreibt sie. Natürlich ist dieser Zeitraum eine beliebte Urlaubszeit. Strenggenommen handelt es sich um drei Feiertage plus Heiligabend und Silvester. Hängt der ordnungsgemäße Auflauf einer Wahl tatsächlich davon ab, ob 55 Tage oder 60 Tage zur Vorbereitung zur Verfügung stehen? Bis Weihnachten sind noch sechs Wochen Zeit. Was ist, wenn mehr als 60 Tage wie bei einer regulären Wahl zur Verfügung stehen? Sind dann alle Unwägbarkeiten wie weggeblasen? Mit ihren Bedenken beschädigt die Bundeswahlleiterin das Vertrauen in Wahlen insgesamt.
Unklar ist, warum die Bundeswahlleiterin innerhalb von 24 Stunden ihre Meinung zu möglichen Risiken einer Neuwahl geändert hat. „Man sehe keine besondere Herausforderung, auch wenn das nun kurzfristig passieren würde“, zitierte die dpa einen Sprecher der Bundeswahlleiterin noch einen Tag vor dem Alarm-Brief. Was in diesen 24 Stunden passierte, fragen sich inzwischen mehrere Medien.
Möglichst spät wählen
Auffällig ist die Freude, mit der SPD-Abgeordnete und -Campaigner den Brief der Bundeswahlleiterin in den sozialen Netzwerken teilten. Dass allein ihre Liebe zu Weihnachten sowie die Sorge um die Urlaubsplanung ehrenamtlicher Helfer und die Arbeitslast von Verwaltungsmitarbeitern diesen Enthusiasmus hervorrufen, ist unwahrscheinlich.
Olaf Scholz hat inzwischen Bereitschaft signalisiert, den Wahltermin vorzuziehen. Er verlangt dafür von der Union im Bundestag die Zustimmung zu bestimmten Gesetzesvorhaben. Rot-Grün hat keine Mehrheit mehr. Für den Bundeskanzler ist der Wahltermin somit Teil der Verhandlungsmasse in der Auseinandersetzung mit Oppositionschef Friedrich Merz. Scholz nutzt den Termin für parteipolitische Taktiererei. Die organisatorischen Bedenken erscheinen wie Hilfsargumente, die die Wählerinnen und Wähler von seinen eigentlichen Motiven ablenken sollen.
Journalisten und Politikerinnen wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP glauben, dass Olaf Scholz in jedem Fall nach der Hamburg-Wahl am 2. März wählen lassen will. Die Umfragen dort versprechen für die SPD ein gutes Ergebnis, während die CDU schlecht abschneiden könnte. Diesen Rückenwind könnte die SPD, die auf Bundesebene in Umfragen aktuell bei 16 Prozent liegt, für sich nutzen wollen.
Vermutlich gehen Scholz und sein Team davon aus, dass der Kanzler von einem späteren Wahltermin profitiert. Vor allem wenn es ihm gelänge, noch vor der Wahl einige Gesetzesinitiativen und Projekte durchzusetzen. Scholz ist ein erfahrener Wahlkämpfer. Ob das SPD-Kalkül allerdings aufgeht, steht auf einem anderen Blatt. Die persönlichen Umfragewerte des Kanzlers sind schlecht. Mit dem Nachtreten gegenüber seinem ehemaligen Minister Christian Lindner dürfte er außerhalb der klatschenden SPD-Kreise weitere Sympathien eingebüßt haben.
Im Willy-Brand-Haus hofft man sicherlich, dass sich Unionskandidat Friedrich Merz im Wahlkampf Fehler leistet und möglicherweise einen Laschet-Moment erlebt. Ausgeschlossen ist das nicht. Merz hat ein Talent dafür, mit unglücklichen Äußerungen Irritationen hervorzurufen. Auch Markus Söder ist eine Unbekannte. Der CSU-Chef sorgt gerne für Unruhe im Unionslager.
Am Ende entscheidet Scholz, wann er die Vertrauensfrage stellt. Ein Interesse an einem frühen Wahltermin hat er nicht. Eine deutliche Wahlniederlage könnte das Ende seiner politischen Karriere bedeuten. In so einer Situation wird man sicherlich nicht auf einen Wahltermin hinwirken, der einem Nachteile bringt.