Jedes Unternehmen hat Kernwerte, die es zu verteidigen gilt. Man kann sie beispielsweise in ihren Mission Statements, Markeneigenschaften oder Produktversprechen finden. Diese Werte bilden das Fundament, auf dem die Stakeholder der Unternehmen ihre Erwartungen aufbauen und dann das tun, was das Unternehmen braucht: zur Arbeit kommen, Produkte kaufen oder Kredite gewähren.
Wahlkampf funktioniert da ähnlich. Die Kandidaten reden über Erwartungen, die sie erfüllen wollen. Der politische Gegner versucht, diese Erwartungen einzureißen. Umso kritischer sind dann die Momente, in denen es klare Anlässe für die Hypothese gibt, dass scheinbar stabile Werte in Wirklichkeit ein Kartenhaus sein könnten. Wenn Kandidaten genau dort enttäuschen, wo Wählerinnen und Wähler den Grund für ihre Kreuzchen sehen, dann ist es Zeit für professionelles Enttäuschungsmanagement: die Krisenkommunikation.
Ich möchte hier anhand von vier Fällen analysieren, wie gut die Kampagnenteams der einzelnen Kandidaten dieses Handwerk im Bundestagswahlkampf beherrschten: Friedrich Merz und die Brandmauer, Scholz’ „Hofnarr“, Habecks Kapitalerträge und Lindners D-Day.
Deal-Breaker oder Nice-to-have?
„Und wenn die AfD mitstimmt, dann stimmt sie eben mit.“ Mit diesem Satz schob CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz eines seiner Kernversprechen – die Brandmauer zur AfD – auf ganz dünnes Eis. Die Reaktionen waren heftig: Medien und politische Gegner werteten es als Tabubruch. Innerparteilich brach eine Debatte um den Kurs der Union aus.
Wenn so ein Versprechen droht enttäuscht zu werden, müssen Krisenkommunikatoren zunächst feststellen, wie relevant diese Enttäuschung für die relevanten Stakeholder ist. Also eher ein Deal-Breaker oder ein Nice-to-have? Das gilt für Politik genauso wie für Wirtschaft. Für Autokäufer sind funktionierende Bremsen weitaus wichtiger als regelkonforme Abgaswerte. Die sind für den Produktnutzen nur ein Nice-to-have. Für Regulatoren dagegen ist ein systematischer Betrug ein absoluter Deal-Breaker. Im Abgasskandal blieben für VW daher die Verkaufszahlen stabil – die Prozesse beschäftigen das Unternehmen bis heute. Ist die Brandmauer ein Deal-Breaker?
Er sei „eine Art Brandmauer gegen rechtes Gedankengut“, sagte 2014 der damalige AfD-Vizechef Hans-Olaf Henkel. Diese erste Brandmauer hielt nicht lange: Im Juli 2015 trat er aus der Partei aus, nachdem Frauke Petry zur Bundesvorsitzenden gewählt wurde. 2021 sagte der frischgewählte CDU-Vorsitzende Friedrich Merz: „Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben.“ Diese zweite Brandmauer hält schon bedeutend länger. Sie ist ein persönliches Versprechen des Vorsitzenden, der sogar sein Amt daran geknüpft hat. Und auch die meisten politischen Beobachter sind sich einig: Fällt die Brandmauer, dann verliert die Union die Mitte. Es ist davon auszugehen, dass ein Schleifen der Brandmauer ein Deal-Breaker für einen erheblichen Teil der Mitglieder- und Wählerschaft der Union ist. Hier musste Merz also sehr sorgfältig vorgehen.
Radikal an der Zukunft interessiert
Sein Glück: Gerade bei einem Deal-Breaker überlegen Stakeholder gründlich, bevor sie handeln. Stakeholder sind radikal an der Zukunft interessiert. Für sie gibt es bei einer größeren Enttäuschung eigentlich vor allem eine Frage: Wird sich dieser Deal-Breaker wiederholen oder nicht?
Dafür schauen Stakeholder meist in die Vergangenheit und auf die Verantwortung. Beim Blick in die Historie prüfen sie: Wie oft ist das denn schon vorgekommen? Denn wenn dasselbe Problem bereits zum zweiten oder dritten Mal vorgekommen ist, dann könnte vielleicht System dahinterstecken. Deshalb ist Scholz’ Ausfall, in dem er den Berliner CDU-Politiker Joe Chialo als „Hofnarr“ beschimpfte, rasch verpufft: Keiner konnte sich an rassistische Äußerungen von Scholz in der Vergangenheit erinnern. Das Einzige, was viele bestätigten, war, dass Scholz schon häufiger ausfallend wurde. Aber ein Bundeskanzler, der hinter verschlossenen Türen laut wird, das ist wahrlich kein Deal-Breaker. Auch Friedrich Merz hatte keinen Ballast aus der Vergangenheit: Die Enttäuschung mit einer fallenden Brandmauer wäre das erste Mal auf ihn zurückgefallen.
Das war bei Lindners D-Day und Robert Habecks Vorschlag, Sozialversicherungsbeiträge auf Kapitalerträge einzufordern, anders. Spätestens seit dem Heizungsgesetz haftet Habeck an, dass er konkrete Gesetzesvorhaben nicht sauber und systematisch durchdenkt. Und das bestätigte sich auch hier: Nach heftiger Kritik ließ sich für Habeck nichts mehr retten. Er ruderte zurück, schränkte ein und versprach nachzuarbeiten. Die Erwartung, kompetent und pragmatisch zu sein, wurde zum zweiten Mal enttäuscht, und Habeck hat das Thema nur beenden können, indem er das zugab. Anders war die Situation im Fall der Plagiatsvorwürfe. Zum einen ist die wissenschaftliche Qualität einer Doktorarbeit weder ein Deal-Breaker noch gab es hier Wiederholungen. Zum anderen reagierte Habeck wie aus dem Lehrbuch: Er veröffentlichte die Vorwürfe selbst, relativierte das Thema und griff seinen Angreifer an.
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Um die Fragen nach Kompetenz und Wiederholung ging es auch bei Christian Lindner: Hat er nun mit dem Ampelausstieg Staatskunst bewiesen – oder war es leichtfertig? Schließlich war es das zweite Mal nach dem Abbruch der Sondierungsgespräche um die Jamaika-Koalition 2017, dass er es ablehnte, zu regieren.
Ich persönlich glaube, dass die FDP eine Kernwählerschaft von vier Prozent hat. Alle Prozentpunkte, die darüber hinausgehen, kommen von Wählern, die sich für die Partei aufgrund ihrer pragmatischen Kompetenz entscheiden. Für Lindner konnte diese Enttäuschung also gerade wegen der Historie den Charakter eines Deal-Breakers haben. Um zu analysieren, wie Lindner und die FDP mit dem D-Day-Thema umgehen, gilt es, über die konkrete Verantwortung nachzudenken.
Opfer, Unfall oder Verantwortung?
Denn wenn die Verantwortung sehr klein ist, droht keine Wiederholung, und die zukunftsorientierten Stakeholder sind beruhigt. Wenn sie dagegen sehr groß ist, muss man umfangreich und glaubwürdig belegen, dass es nicht nochmal vorkommt.
Ein Bewertungsschema, das sich in der Praxis bewährt hat, ist die Situational Crisis Communication Theory des Kommunikationswissenschaftlers Timothy Coombs. Sie unterscheidet zwischen drei großen Krisen-Clustern: Erstens die Opferkrisen, bei denen der Vorgang äußeren Umständen geschuldet ist und die Verantwortung sehr klein. Zweitens die Unfallkrisen, bei denen der Vorfall nicht beabsichtigt war, aber dennoch geschehen ist: mittlere Verantwortung. Und drittens die Verantwortungskrisen, bei denen, wie der Name schon sagt, die Verantwortung sehr hoch ist.
Bei voller Verantwortung für einen Deal-Breaker muss meist mit viel Mühe dargelegt werden, dass es nicht nochmal vorkommt. Aufarbeitung, Change-Prozesse, Personalien. Der erste Instinkt ist daher meistens, bei großen Enttäuschungen diese Verantwortung zunächst abzulehnen.
So tat es auch Lindner im November 2024: Während er 2017 die geplatzten Sondierungen noch vollständig auf seine Kappe nahm („Lieber nicht regieren als falsch regieren“), wählte er sechs Jahre später eine Opferstrategie: Olaf Scholz sei schuld und habe alles geplant. Wir wissen heute, dass diese Strategie leichtfertig war.
Lindner warf Scholz die Vorbereitung des Aus vor, während die FDP-Parteizentrale sie selbst vorantrieb. Zusätzlich log die Parteizentrale über die Abläufe. Hätte Lindner – wie schon 2017 – die Verantwortung übernommen und genau erklärt, welche Abwägungen zu diesem beabsichtigten Bruch der Koalition geführt hätten, hätte er zumindest den Teil seiner Stakeholder bewahren können, die Pragmatik und Verantwortung schätzen. Wer dagegen die Verantwortung ablehnt und sie von den Stakeholdern trotzdem zugeschrieben bekommt, hat leider verloren.
Das ist offensichtlich, wenn sogar der stellvertretende „Welt“-Chefredakteur Robin Alexander Lindner im Podcast „Machtwechsel“ einen „Filou“ nennt. Er wirkt nun wie ein Mann, bei dem jede Chance irgendwann dornig wird. Wiederholung? Nicht unwahrscheinlich. Dabei hätte Lindner sogar die Möglichkeit gehabt, Verantwortung zu übernehmen und trotzdem eine Opferstrategie zu verfolgen: wenn es gerade aufgrund der eigenen Werte keine andere Möglichkeit als dieses bewusste Handeln gegeben hätte.
Ich kann nicht anders!
Friedrich Merz ist in der Brandmauer-Frage überlegt und diszipliniert vorgegangen. Er übernahm die Verantwortung und wählte trotzdem eine Strategie aus dem Opfer-Cluster: Die Umstände zwingen ihn dazu. Auch Unternehmen kennen derartige Strategien gut. Wenn beispielsweise Entlassungen drohen, wenden sie diese fast immer an: Absatzzahlen, Marktgegebenheit, Wettbewerbsdruck – es gibt Umstände, die zu unangenehmen Schritten zwingen. Das Unternehmen ist Opfer, aber begegnet den Gefahren aktiv.
Die Gegenspieler von Merz sahen das nicht so: Sie konnten sich sehr wohl vorstellen, dass Merz anders hätte handeln können. Entscheidend in der Krisenkommunikation sind aber eben nicht die Stakeholder, die man gar nicht hat, sondern diejenigen, die relevant für den eigenen Erfolg sind. In Merz’ Fall: CDU-Mitglieder und potenzielle CDU-Wählerinnen und -Wähler. Diesen musste er das Dilemma glaubhaft machen.
Die Strategie funktionierte: Äußere Umstände hätten ihn zum Entschließungsantrag gezwungen, und dementsprechend traurig sahen alle Unionsabgeordneten nach der gewonnenen Abstimmung aus. Wie Opfer. Zwei Tage später, bei der Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz, passte Merz seine Strategie an und wählte eine Unfallstrategie: Er dokumentierte in Verhalten und Reden, dass er eine Mehrheit mit der AfD nicht anstrebt und mit Herzblut für andere Mehrheiten kämpft. Er hat es zwar nicht geschafft, diese anderen Mehrheiten zu besorgen. Allerdings scheinen seine wichtigsten Stakeholder ihm diese Haltung abgekauft zu haben.
Diese Unfallstrategie wurde außerdem um einige kluge Maßnahmen ergänzt. Während nach dem Bruch der Ampel aus der FDP-Zentrale zahlreiche Indizien für ein strategisch geplantes Vorgehen auftauchten, erschien zur Brandmauer-Geschichte beispielsweise im „Stern“ ein langer Artikel, gespeist aus vertraulichen Informationen. Und aus dieser Geschichte wurde deutlich: Es gab keine Pläne in der CDU, gemeinsame Sache mit der AfD zu machen – im Gegenteil, Merz hatte sämtliche Gremien überrumpelt und es solo durchgefochten. Alle, die der Union vorwarfen, hier planvoll die Brandmauer aufzuweichen, liefen ins Leere. Die Folge: Die CDU-Umfragewerte blieben stabil. Die der AfD bewegten sich kaum.
Die Wählerinnen und Wähler scheinen Merz zu glauben, dass es keine Pläne gibt, mit der AfD zusammenzuarbeiten. In den TV-Duellen und im Quadrell danach wiederholte er diese Linien diszipliniert: Außer bei der Migration gibt es keine Schnittmenge mit der AfD – und in allen anderen Fragen keine Gespräche oder Zusammenarbeit.
Die anderen genannten Krisenthemen tauchten dagegen bei den Auseinandersetzungen im Fernsehen gar nicht auf. Das wäre in den USA sicherlich anders gewesen. Das ist zumindest ein gutes Zeichen für die politische Debattenkultur in diesem Land.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Strategie. Das Heft können Sie hier bestellen.