Authentizität ist kein Tippfehler

Künstliche Intelligenz

„Authentizität ist wahnsinnig wichtig“, sagt der Linkedin-Experte. „Ich zum Beispiel schreibe meine Posts ja auch immer mit ChatGPT. Aber ich baue absichtlich ein, zwei Tippfehler ein. Dann fühlt sich der Post authentischer an.“

Dieses Zitat stammt aus einem Vortrag, den ich kürzlich zum Thema Personal Branding gehört habe. Während ich mich noch frage, ob Tippfehler wirklich das Einzige sind, was manche Menschen zu ihren eigenen Linkedin-Posts beizutragen haben, meldet sich jemand aus dem Publikum mit einem weiteren Tipp: „Ich nehme immer die Gedankenstriche raus. Dann merkt keiner, dass der Text von einer KI stammt.“ Der Linkedin-Experte nickt. „Authentizität – sehr wichtig!“, betont er noch einmal.

Wenn wir anfangen, bewusst Tippfehler in einem Post einzubauen, um menschlich zu wirken – was sagt das über unser Verständnis von Authentizität?

Mich erinnern Aussagen wie „Baue bewusst Tippfehler“ ein an die Geschichte „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann. In dem Kunstmärchen verliebt sich der junge Nathanael in die perfekte Frau: Olimpia. Doch Olimpia stellt sich als Automat heraus, als Puppe, die Nathanael am Ende um den Verstand bringt und in den Suizid treibt.

In der Gesellschaft greift daraufhin eine tiefe Angst um sich, es „schlich sich in der Tat abscheuliches Misstrauen gegen menschliche Figuren ein“, wie es am Ende der Erzählung heißt. „Um nun ganz überzeugt zu werden, daß man keine Holzpuppe liebe, wurde von mehreren Liebhabern verlangt, daß die Geliebte etwas taktlos singe und tanze“. Es wird bewusst gegähnt und beim Stricken in den Finger gestochen, um zu beweisen, dass man kein perfekter Automat ist, sondern ein echter Mensch.

Hoffmann, wie die meisten Künstler der Romantik, fürchtete eine Welt, die immer maschineller und automatisierter würde, in der die Menschen ihre Menschlichkeit verlieren würden. Man kann sich gut vorstellen, was er von ChatGPT gehalten hätte.

Wie wurde Authentizität zum Marketing-Buzzword?

2023 kürte der US-Wörterbuchverlag Merriam-Webster den Begriff „authentic“ zum Wort des Jahres. Die Zahl der Suchanfragen nach diesem Begriff sei zwar in den meisten Jahren hoch gewesen, so der Verlag, doch 2023 sei ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen, angetrieben von Geschichten und Diskussionen über KI, Promikultur, Identität und soziale Medien.

Der Begriff hat sich schon lange von seinem Ursprung entfernt: Früher wurde der Begriff im Sinne von „Autorschaft“ und „Autorität“ genutzt (Lat. „Auctoritas“). Ein „authentischer Van Gogh“ ist ein Bild, das der niederländische Maler selbst mit dem Pinsel auf die Leinwand gebracht hat, keine Fälschung.

Heute ist alles Mögliche „authentisch“; der Begriff ist zu einem universellen Qualitätskriterium geworden: Ich will in ein „authentisches“ italienisches Restaurant, nicht in die Kette. Diese Rapperin ist „authentisch“, die andere ein „Sell-out“. Eine der schlimmsten Beleidigungen auf dem Pausenhof wie auf Tiktok ist es, ein „Fake“ zu sein. Und jedes Mal, wenn ein neues soziales Netzwerk auftaucht, behaupten die Gründer, ihr Angebot sei authentischer als das ihrer Vorgänger, wie eine Studie ergab. Facebook bezeichnete sich selbst als authentischer als MySpace, weil die Nutzer sich mit ihrem echten Namen anmeldeten. Twitter behauptete, es sei authentischer, weil die Tweets in Echtzeit gepostet werden. Von BeReal ganz zu schweigen.

Die Nachfrage nach dem scheinbar raren Gut Authentizität ist groß. Digitalisierung, Social Media und nun der rasante Aufstieg an KI-generierten Bildern, Texten und Ideen wecken eine Sehnsucht nach dem Echten und Wahren.

Kein Wunder, dass Marketing- und PR-Experten ihren Kunden predigen: Authentizität über alles! Authentizität ist nicht alles in der Kommunikation, aber eine „nicht-authentische“ Kommunikation ist zum Scheitern verurteilt. Ich nehme mich da nicht aus: Seit ich in Agenturen arbeite, ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht das Wort „authentisch“ gesagt habe. Und alle Studien geben den Experten recht: Egal, ob man für ein gesamtes Unternehmen kommuniziert oder für einen CEO eine Personal Brand aufbauen möchte, Authentizität ist der Zauberspruch, der die Herzen, Augen und Geldbeutel der Zielgruppen öffnet.

Doch wie gelingt sie, diese authentische Kommunikation? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erst ein Missverständnis ausräumen.


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Authentizität ist mehr als Verletzlichkeit

Authentizität wird oft mit Verletzlichkeit gleichgesetzt: Ich zeige dir meine Fehler, meine Schwächen, meine Wunden. Wer so offen über seine Unsicherheiten spricht wie ich, der kann gar kein Fake sein, der ist authentisch. Darum heulen Influencer auf Tiktok, darum prahlen Führungskräfte in Podcasts von ersten Karriereniederlagen als Wendepunkte zum Erfolg.

Authentizität als das Gegenteil von Perfektion. Dieser Rat, geboren aus einem richtigen und klugen Gedanken, führt leider in der Praxis oft zu dem Bullshit-Bingo, das wir alle jeden Tag auf unserem Linkedin-Feed erleben. Egal, wie oft die Brené Browns und Simon Sineks dieser Welt predigen, dass wir uns verletzlich zeigen müssen, um Erfolg zu haben – vor allem Führungskräfte und Unternehmen tun sich damit schwer. Sie interpretieren Verletzlichkeit so, wie Bewerber in einem Bewerbungsgespräch die Frage „Was sind ihre größten Schwächen?“ interpretieren: „Oh, ich bin zu perfektionistisch!“

Verletzlichkeit zuzulassen, ist grundsätzlich ein guter Tipp. Doch darauf lässt sich Authentizität nicht reduzieren.

Bei E.T.A. Hoffmann findet sich noch ein Satz, der besser beschreibt, wie authentisches Kommunizieren möglich ist: Die Liebhaber fordern von ihren Frauen „vor allen Dingen aber, daß sie nicht bloß höre, sondern auch manchmal in der Art spreche, daß dies Sprechen wirklich ein Denken und empfinden voraussetze.“

Wirklich denken und empfinden – darin steckt auch der Schlüssel zu wirklich authentischer Kommunikation.

Was Menschen besser können als ChatGPT

Über die genaue Definition und Messbarkeit von Authentizität streiten Philosophen, Psychologen, Soziologen und Kommunikationsexperten. Die hilfreichste Definition für erfolgreiche, authentische Kommunikation ist: Was ich sage und tue, ist kongruent mit meinem Denken, Fühlen, meinen Einstellungen, Überzeugungen, Werten und Motiven. Authentische Kommunikation ist also untrennbar damit verbunden, authentisch zu handeln. Das kann kein Prompt ersetzen.

Doch wie gelingt es praktisch, dass sich die Kommunikation auch authentisch anfühlt? Ich selbst erstelle und prüfe jede Art von Content – egal ob auf Linkedin oder in einem Film, ob für ein Unternehmen oder ein Individuum – anhand von drei Kriterien.

Kriterium 1: Haltung

Zeigt die Kommunikation eine klare Haltung des Senders? Wird diese Haltung auch praktisch gelebt? Und ist diese Haltung konsistent spürbar, auf allen Kanälen?

Das klassische Beispiel: Eine Regenbogenflagge im Logo ist nicht „authentisch“, wenn das Unternehmen sich nicht auch darüber hinaus für die Rechte der LGBTQ+ Community einsetzt oder wenn es den deutschen Account in Regenbogen taucht, den chinesischen aber nicht.

ChatGPT allein hat keine Haltung – diese muss der Sender mitbringen, ob Unternehmen oder Individuum.

Kriterium 2: Persönlichkeit

Ist in der Kommunikation eine Persönlichkeit spürbar? Ein bestimmter Ton, ein origineller Gedanke, vielleicht sogar Humor?

ChatGPT kann Persönlichkeit nur bis zu einem bestimmten Grad faken: Mit dem richtigen Prompt lässt sich nahezu jeder bekannte Stil nachahmen, von Shakespeare bis Kim Kardashian. Das funktioniert – zumindest, wenn ich mich als Unternehmen damit begnüge, eine Imitation zu sein. Authentischer wirke ich dadurch nicht.

Kriterium 3: Echte Erfahrung

In puncto Erfahrung sind Menschen ungeschlagen – und werden es immer sein. Eine KI erlebt selbst nicht, sie kann nur von den echten Erlebnissen anderer erzählen. Man kann mit ChatGPT praktische Tipps prompten, wie man ein Team besser führt. Und damit als Coach auf Linkedin vermutlich sogar einige Likes einsammeln. Aber authentisch, und damit nachhaltiger, kann eine Führungskraft Rat geben, die wirklich ein Team angeleitet, es gefördert, mit Mitarbeitern gestritten, gelitten und gelacht hat.

Authentizität entsteht nicht durch die Simulation von Fehlbarkeit, sondern durch echte Menschen mit echten Gedanken, echten Werten und echten Erlebnissen. Wer als authentisch wahrgenommen werden möchte, sollte sich nicht fragen: Wie täusche ich Echtheit überzeugend vor?, sondern: Was will ich eigentlich wirklich sagen – und warum?

Und das ist keine technische Herausforderung, sondern eine menschliche Entscheidung.