Bis zu den Cannes Lions vergangene Woche hatte ich mich noch nicht intensiver mit Vaseline beschäftigt. Dass es auf Tiktok und Instagram zig Influencer und Creator gibt, die Hacks darüber verbreiten, was sie glauben, mit Vaseline so alles anstellen zu können, wusste ich nicht. Einige schmieren sich die zähflüssige Masse auf die Zähne, andere auf die Brille. Vaseline kommt als Grillanzünder zum Einsatz. Hunde bekommen sie auf ihre Pfoten. Manche essen Vaseline sogar.
Einige Anwendungen sind abwegig und dumm, aber harmlos. Andere Hacks sind gesundheitsgefährdend. In Kommunikationsterminologie: Die falsche Anwendung von Vaseline kann die Brand Safety beschädigen. Für eine weltweit vertriebene Marke, die die Haut pflegen soll, kann jeder Personenschaden zum PR-Desaster werden. Im Social-Media-Zeitalter reichen bereits Gerüchte, um eine Brand in Misskredit zu bringen.
Ein in Cannes mehrfach ausgezeichneter Case heißt „Vaseline verified“. Die Marke beziehungsweise das verantwortliche Unternehmen Unilever haben Wissenschaftler damit beauftragt, sich mit besonders häufig verbreiteten Hacks zu beschäftigen und diese danach zu untersuchen, ob sie harmlos oder gefährlich sind. Creator und Influencer mit mehr oder weniger sinnvollen Anwendungen erhielten dann ein „Verified“-Siegel, das sie wiederum in ihren Content einbinden konnten.
Der Case zeigt einige gesellschaftliche Phänomene auf, die viel mit der Omnipräsenz von Social Media zu tun haben.
Zum einen geht es um Fake News. Wer Usern absichtlich Schwachsinn unterjubelt, verbreitet genau diese. Es geht auch darum, wie viel Einfluss Creator und Influencer auf ihre Fans haben. Sogar absurde Challenges oder Phänomene finden Abnehmer oder Nachahmer. Der Vaseline-Case zeigt zudem, wie eine Alltagsmarke aufgeladen werden kann. Selbst unsexy Produkte können in Social Media groß werden, wenn sich ausreichend Creator damit beschäftigen.
Verknüpfung mit Testimonials
Die diesjährigen Cannes Lions und das dazugehörige Festival drehten sich überwiegend um künstliche Intelligenz und wie sie die Kreativindustrie und das Marketing verändert. Doch lassen sich anhand der fünf Tage auch popkulturelle Zeitgeist-Phänomene skizzieren.
Die Cannes Lions sind ein Werbefestival. Natürlich spielt die Inszenierung von Marken und Unternehmen eine große Rolle. Doch endet der Brand-Begriff nicht beim Produkt. Wie Marken sich mit Testimonials verbinden, ist für den Erfolg zentral. Das können Superstars wie David Beckham, Beyoncé, Michael Jordan und Jimmy Fallon sein. Aber eben auch Creator, Podcaster und Influencer mit ordentlich Reichweite – Personal Brands. Wichtig ist, dass sie eine Community bedienen, die sich am besten mit der einer Produktmarke überschneidet.
Ausstellerseitig dominierten in Cannes Unternehmen wie Meta, Linkedin, Tiktok, Microsoft, Reddit, Pinterest, Canva und Amazon. Es werden an der Côte d’Azur Advertising-Budgets verteilt und Kontakte geknüpft. Inhaltlich standen vor allem Creator und die Content-Distribution im Mittelpunkt. Doch es geht um mehr als um Inhalte. Unterschwellig wird ein Lifestyle propagiert, sich 24 Stunden am Tag als Creator zu fühlen und intensiv Content zu produzieren. Die Motivation, das zu tun, wird durch eine monetäre Incentivierung vonseiten der Plattformen und von Partnern gesteigert.
Dadurch dass dem Publikum Prominente wie die Schauspielerin Reese Witherspoon oder der erwähnte US-Komiker Jimmy Fallon als Role Models für Entrepreneure und Best Cases serviert werden, entwickelt sich eine Dynamik, auch diesen Status erreichen zu wollen: in die Celebrity-Liga von Spitzensportlern, Sängern und sonstigen Künstlern aufzusteigen – nur eben über die Erstellung und Verbreitung von Content und nicht aufgrund einer künstlerischen Leistung im klassischen Sinne.
Für diejenigen, die bereits einen großen Namen haben, ist es die perfekte Zeit, weil man sich wunderbar selbst vermarkten kann – über Werbung, Dokus, Events und Kooperationen mit Marken. Es entsteht eine hohe Faszination für einen Jetset-Lifestyle. Cannes ist dafür der ideale Ort. Hier kann jeder nah dran sein. Die Star-Dichte im Umfeld des Festivals ist enorm.
Wie noch durchdringen?
Der Content der weltweit führenden Marken wird immer kreativer, immer schneller und präsenter. Es gibt geniales Storytelling. User können rund um die Uhr in digitale Markenuniversen eintauchen.
Für Mittelständler, B2B-Unternehmen, Behörden und die Politik dürfte es dagegen immer schwerer werden, mit ihrer Kommunikation noch durchzudringen. Entweder ist man extrem kreativ, investiert in Werbung und Kooperationen oder muss sich allein auf Kernzielgruppen fokussieren. Die meisten PR-Cases in Cannes werden nicht für Earned Media konzipiert. Earned Media sind die Folge. Wenn etwas in Social Media groß wird, weil vielleicht prominente Marken der Absender und Creator involviert sind, entsteht die Berichterstattung von allein.
Peu à peu verschieben sich die gesellschaftlichen Werte hin zu denen von Brands. Was Cannes auch zeigt: Nachhaltigkeit und Klimaschutz spielen nur noch eine Nebenrolle. Das war vor ein paar Jahren anders. Überhaupt war das Festival gut darin, gesellschaftliche Probleme auszuklammern: Was passiert in den USA? Was ist mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten? Was ist mit Desinformation, Propaganda und Fake News? Wie stabil sind die westlichen Demokratien?
Der schwedische Jurypräsident der PR-Kategorie kritisierte in einer Pressekonferenz recht subtil die Branche. Sinngemäß sagte er, sie produziere zum Teil Fake-Lösungen für Fake-Probleme. Teilweise entwickele sie auch Lösungen für Probleme, die es gar nicht gibt. Oder Fake-Lösungen für reale Probleme.
Am Ende dieser Kette steht dann eventuell ein Creator, der empfiehlt, sich Vaseline auf die Zähne aufzutragen – als Teil der Lösung.
Offizielle Case-Beschreibung von „Vaseline Verified“. © Cannes Lions